Die Kreativwirtschaft zieht viele Menschen an, obwohl die Arbeitsverhältnisse unsicher sind. Die Politik hat diesen Wandel vorangetrieben, bleibt bei sozialer Sicherung aber auf „Normalarbeit“ fixiert, sagt die Sozialwissenschaftlerin Lisa Basten. Kreative sollten neue Wege der Interessenvertretung gehen, so ihre Schlussfolgerung.
iRights.Media: Frau Basten, Sie haben das Selbstverständnis von Kreativen untersucht. In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie es für künstlerisch und kreativ Arbeitende immer schwieriger wird, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Dennoch zieht es offenbar sehr viele in Kreativberufe. Ist das nicht paradox?
Lisa Basten: Dazu muss man fragen, wovon sich so viele eigentlich angezogen fühlen. Ich denke, dass „Kreativität“ und „Arbeiten in kreativen Branchen“ zu einem Leitmodell unserer Gesellschaft geworden ist. Lange galt der Lebensentwurf des Künstlers eher als Gegenmodell zur arbeitnehmerischen Existenz. Kreative lebten, etwa als Bohemien oder als armer Poet, eher am Rand der Gesellschaft. Heute ist die kreative Arbeit in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Auch der normale Mittelständler, der aus gutem Hause kommt und an sozialer Absicherung und Familie interessiert ist, strebt darüber hinaus nach Kreativität. Denn die hat etwas mit „selbst gestalten“ zu tun, auch ganz stark mit Individualität.
Sind diese Verheißungen also so attraktiv, dass viele Menschen wider besseres Wissen ein schlechtes Auskommen und ein kaum abgesichertes Leben in Kauf nehmen?
Wissen sie es tatsächlich? Mit welchen Vorstellungen und Erwartungen gehen die Leute denn in diese Branchen wirklich rein? Ich habe bei meinen Recherchen viele Hinweise darauf gefunden, dass die Menschen tatsächlich eine Form von Befriedigung finden. Jenseits von fehlender sozialer Absicherung, jenseits von angemessenen Löhnen, ergibt das für ganz viele Leute für ganz lange Zeit Sinn, für sie funktioniert der Deal. Meinen Befunden nach können Menschen sehr viel daraus ziehen, einfach Teil einer kreativen Branche zu sein.
Darüber hinaus ist die Hoffnung, es zu schaffen, ein ganz großer Antrieb. Der hat gewiss auch damit zu tun, dass wir die ganze Zeit von Medien umgeben sind. Uns erreichen permanent ganz viele kreative Produkte, die es ja irgendwie zu uns geschafft haben. Deshalb werten wir sie als im weitesten Sinn „erfolgreiche“ Produkte, hinter denen Menschen stehen, die ihr Produkt bis zum Endkunden gebracht haben. Daher erscheint es absolut möglich, einer von denen zu werden.
Das beschreiben Sie in Ihrem Buch als Starökonomie.
Genau, denn in einem Feld voller Einzelkämpfer fokussiert man auf die Leute, die es geschafft haben. Damit fallen alle anderen, die ihre Arbeit nicht öffentlich machen können, praktisch hinten runter. Diese Diskrepanz zeigt sich bei den Kreativen einerseits in extremen Einkommensgefällen und andererseits in sehr unterschiedlichen Graden der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Ist den Neu- oder Quereinsteigern also klar, dass es immer nur ganz wenige schaffen und sie sich über Jahre oder für immer auf einem sehr unsicheren beruflichen Terrain bewegen werden?
Die Entscheidung gegen die Sicherheit ist zum großen Teil eine bewusste. Das hat auch was mit Style und Status zu tun. Aber sie ist eben nicht mehr die Entscheidung einer Randgruppe. Es ist nicht mehr radikal, sondern es ist Zeitgeist, ein Leitbild.
Kann so ein Leitbild Menschen beherrschen, auch wenn es angesichts der Perspektiven unvernünftig erscheint, ihm zu folgen?
Die Kreativberufe sind ja nicht nur als Lebensentwurf in die gesellschaftliche Mitte gerückt, sondern auch in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung. Die Kultur- und Kreativwirtschaft umfasst in Europa und in den USA elf Branchen. Zusammen erzielen sie eine Bruttowertschöpfung, die in etwa so hoch ist wie die der Automobilindustrie, der chemisch-pharmazeutischen Industrie oder des Baugewerbes.
Und das war politisch gewollt oder gar gesteuert?
Es war ein wirtschaftspolitisches Projekt im Zuge der neoliberalen Politik der vergangenen 15 bis 20 Jahre. In der EU findet sich dies in den Verträgen von Lissabon, in Deutschland in der Agenda 2010, die die Regierung Schröder entwickelte. Ganz bewusst sollten die Kreativbranchen gestärkt werden, man sieht in ihnen bis heute großes wirtschaftliches Potenzial. Und das ist meiner Meinung nach auch richtig. Zumal viele damit rechnen, dass unter der Überschrift „Industrie 4.0“ und im Zuge der weiter voranschreitenden Digitalisierung unseres Alltags viele Arbeitsplätze verloren gehen, die durch Maschinen ersetzt werden. Angesichts dieses Entwicklungsszenarios verknüpfen viele mit den kreativen Berufen die Hoffnung, neue Beschäftigungen in wachsenden Wirtschaftsbereichen zu schaffen. Die Kultur- und Kreativbranchen gelten seitdem als Hoffnungsträger für die Wirtschaft der Zukunft.
Was unterscheidet denn die Arbeit in kreativen Berufen von der Arbeit in anderen Wirtschaftsbereichen?
In allen elf Branchen der Kreativwirtschaft arbeiten zum allergrößten Teil Solo-Selbständige oder befristet Angestellte, die also nur für die Projektdauer einen Arbeitsvertrag unterschreiben. Projekte und Teams wechseln ständig und zwischen den Projekten gibt es Leerlauf ohne Einkommen, mitunter auch mehrere Monate. Dazu kommen die „festen freien“ Arbeitsverhältnisse. All das fasse ich als „Projektarbeit“ zusammen. In der Projektarbeit ist es für die allermeisten nicht möglich, an dem deutschen Sozialsystem in ähnlicher Weise teilzuhaben wie all die, die sich in einem Normalarbeitsverhältnis befinden, der unbefristeten Vollzeitanstellung.
Und Sie halten der Politik vor, auf diese Arbeitsformen nicht gut eingestellt zu sein?
Wir haben ja bereits festgestellt, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft von den Umsätzen her recht gut aufgestellt ist, was ja auch heißt: In den Branchen ist genug Geld da. Doch es kommt nicht bei allen Beteiligten genügend an. Es ist eine Verteilungsfrage und diese ist wiederum eine Machtfrage. Ganz viele Kreative arbeiten ihr Leben lang produktiv, aber das reicht für sie nicht, um vernünftig sozial abgesichert zu sein. Sie leben prekär, weil für sie andere Regeln gelten als für andere Berufstätige. Wenn diese Leute vollzeitlich und lebenslang arbeiten und damit zur wirtschaftlichen Relevanz des Landes massiv beitragen, dann ist es schon eine Aufgabe für Gesellschaft und Staat, etwa die Sozialsysteme anzupassen. Von denen müssen auch jene profitieren können, die jenseits vom normalen Arbeitsverhältnis tätig sind. Meiner Meinung nach ist ein Sozialstaat auch dafür da, Machtgefälle auszugleichen. Er könnte eingreifen, ebenso wie die Zivilgesellschaft.
Was hält die Kreativen davon ab, mit einem anderen Selbstverständnis und mehr Selbstbewusstsein aufzutreten?
Zunächst spielt in den Kreativbranchen der Mythos des Durchbeißens eine große Rolle. Im Grunde hat doch jeder mal klein angefangen, etwa als Autor für das kleine Blatt geschrieben und dafür nichts bekommen, und dann kamen immer die langen, harten Jahre, in denen man sich da so durchbeißen musste, bis man es dann „geschafft“ hatte. Der Mythos ist offenbar sehr viel stärker als das Narrativ von Verbänden und Gewerkschaften, die sagen: „Lasst euch nicht auf Lohndumping ein. Es gibt Honorarempfehlungen, wir haben Tarifverträge ausgehandelt, es gibt ein Arbeitszeitgesetz.“ Doch diese Wissensvermittlung dringt nicht durch oder findet zu wenig statt. Dazu kommt, dass sich an wenigen Stellen so etwas wie Belegschaften formen können, die eine längere Zeit stabil zusammenarbeiten. Vielmehr finden sich die Leute in Projekten zusammen, die mal zwei Jahre laufen, vielleicht aber auch nur ein paar Tage.
Bieten sich nicht auch die Gewerkschaften als Interessenvertretung für Selbständige und Freiberufler an, zum Beispiel Verdi?
Ja, aber Verdi macht leider einen vielfach sehr verbesserungswürdigen Job. Das liegt vor allem daran, dass für sie das Normalarbeitsverhältnis noch immer das Maß aller Dinge ist: fest beschäftigt und am besten mit Tarifverträgen ausgestattet. Doch die längst nicht mehr besondere, sondern gewöhnliche Projektarbeit müsste endlich als gleichwertig gegenüber der Anstellung anerkannt werden. Dementsprechend sind dann auch Sicherungsmechanismen und Regulationsmaßnahmen für Projektarbeiter erforderlich.
Wie könnte eine solche Förderung aussehen?
Dazu müssen wir uns zunächst ansehen, wie es in Firmen mit Normalbeschäftigung läuft. Wenn dort jemand im Betriebsrat tätig ist, leistet er dies während seiner eigentlichen Arbeitszeit, das wird kompensiert, die Leute sind somit komplett abgesichert. Wenn man dies nun vergleicht mit der Situation von Projektarbeitern, haben diese eigentlich kaum Geld – und Zeit schon gleich gar nicht. Und die sollen sich in der wenigen freien Zeit ehrenamtlich organisieren und engagieren. Und das Risiko eingehen, als „Interessenvertreter“ nicht mehr gebucht zu werden – während es in normalen Anstellungen etwa den Kündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder gibt.
Das heißt, wenn man die Entwicklung weg vom Normalarbeitsverhältnis und hin zur Projektarbeit akzeptiert, dann ist es nur konsequent, auch für Selbstorganisation und Interessenvertretung neue Wege zu gehen. Man muss neue Strukturen zulassen und womöglich unterstützen, damit diese Leute diese wichtige Arbeit leisten können. Ein Beispiel: Bei einem Projekt, an dem soundsoviel Beschäftigte mitwirken, die in mindestens drei Verbänden organisiert sind, wird eine bezahlte Projektstelle für ein halbes Jahr eingerichtet, dazu werden Räume und Technik zur Verfügung gestellt, Verbrauchsmaterialien bezahlt. Das wäre die ehrliche Antwort der Politik darauf, dass sie von den Kreativen mehr organisierte Einmischung im Sinne tradierter Arbeitnehmerbeteiligung erwartet.
In Ihrem Buch sprechen Sie auch eine indirekte Förderung oder Unterstützung der einzelnen Kreativen durch politische Maßnahmen an. Wie würde das aussehen?
Wo man mal ganz im Kleinen anfangen könnte, wäre zum Beispiel daran zu denken, Krankenversicherungen dazu zu zwingen, Leute in der Selbstständigkeit an ihrem realen monatlichen Einkommen zu bemessen und nicht mit irgendeinem ominösen Mindestbetrag, den ganz viele gar nicht verdienen. Im Hinblick auf klassische Fördermechanismen unterstütze ich die Forderung, dass soziale Mindeststandards – wie auch immer diese definiert sind – eingehalten werden müssen, wenn öffentliche Gelder fließen.
Wie lautet Ihr Fazit?
Die politische Forderung, die ich auch in meiner Rolle als Wissenschaftlerin formuliere, muss lauten: Dreht euren Blick weg vom Normalarbeitsverhältnis. Akzeptiert, dass Projektbeschäftigung zumindest ein Teil unserer Zukunft ist. Wahrscheinlich sogar der größte Teil. Und lasst uns die Systeme für Förderung und soziale Absicherung in ihrer Gesamtheit daran anpassen. Und an die Kreativen gerichtet: Akzeptiert, dass ihr einen wirklich relevanten Beitrag für diese Gesellschaft leistet und zieht daraus die Konsequenz, dass ihr die Pflicht und auch das Recht habt, das mitzugestalten, was in diesem Land passiert.
Das Interview führte Henry Steinhau.
Lisa Basten studierte Komparatistik und Soziologie in München, Medienwissenschaft in Potsdam. Sie lehrt Mediensoziologie an der Filmuniversität Babelsberg und arbeitet an ihrer Dissertation am Promotionskolleg „Gute Arbeit“ am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Vor kurzem erschien ihr Buch „Wir Kreative! Das Selbstverständnis einer Branche“;
Frank & Timme, Berlin 2016, 162 Seiten, 16,80 Euro.
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