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Gamification: Die wollen doch nur spielen

Wer ein Fußballtor treffen soll, pinkelt genauer. Wer den kleinen Eisbär leiden sieht, duscht schneller. Mechanismen aus der Welt der Spiele sollen Alltagsaufgaben attraktiver machen. Gamification heißt das Prinzip, das den menschlichen Spieltrieb in jeder Lebenslage weckt.


von Henrik Rampe 

Das Spielkind in uns wird nie erwachsen. Der Wettstreit mit anderen gepaart mit dem "Höher, schneller, weiter"-Ehrgeiz spornt uns zu Bestleistungen an. Die fesselnden Prinzipien von Brettspielen enden längst nicht an der Tischkante, die Mechanismen von Videospielen reichen weiter als bis zur Schnur des Controllers. Online wie offline hat sich mit dem Anglizismus Gamification ein Begriff verankert, der den Transfer von Spielprinzipien in die spielferne Alltagsrealität beschreibt.


Der britische Informatiker Richard Bartle gilt als Wortschöpfer und befasst sich seit Anfang der 1980er mit Spielertypen. Älter als der Begriff ist das Prinzip, das dahintersteckt. Schon Mark Twain ließ 1876 seinen Romanhelden Tom Sawyer das Zaunstreichen als Geschicklichkeitsspiel anpreisen. Aus der lästigen Pflichtaufgabe wurde eine Herausforderung mit Event-Charakter. Nachbarsjungen kauften sich bei Tom Sawyer teuer ein, um einmal den Zaun streichen zu dürfen.


Friedrich Schiller: Gamer der ersten Stunde

Positive Spielreize werden in die oft monotone Alltagswelt übertragen, um zu einem bestimmten Verhalten anzuregen. Die gute alte Rabattmarke arbeitet genauso erfolgreich mit dem Prinzip wie das Bonusheft bei treuen Vielfliegern. Mit dem Homo ludens wurde dem menschlichen Spieltrieb ein facettenreiches Erklärungsmodell gewidmet. In Anlehnung an diese Vorstellung schrieb Schiller: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."


Bestmöglich adaptieren lässt sich das Spielprinzip im Sport, da der Sport an sich bereits ein Spiel ist. In der App "Zombies, Run!" werden virtuelle Zombie auf den inneren Schweinehund losgelassen. Während des Joggens kann der Läufer zwischen verschiedenen Missionen in der Smartphone-Anwendung wählen. Das Ziel dabei immer: so schnell zu laufen, dass die Zombie-Apokalypse überlebt wird. Der Anreiz des Spiels ist auch auf ganz andere Kontexte übertragbar. Um die Treffsicherheit am Männer-Urinal zu erhöhen, wird immer öfter ein Mini-Fußballtor in die Kloschüssel gesetzt.


Die U-Bahntreppe wird zum Klangerlebnis

Um mehr Bewegung im Alltag ging es einer schwedischen Werbeagentur, die gleich eine ganze Reihe von Gamification-Versuchen durchführte. Dazu gehörte das Experiment, bei dem eine U-Bahntreppe zu einer Klaviertastatur umfunktioniert wurde. Mit jedem Schritt auf eine Stufe erklangen Töne, als würde man mit den Füßen Klavier spielen. Zweidrittel der Rolltreppenfahrer ließen sich so auf die gamifizierte Pianotreppe locken. Beim Thema Nachhaltigkeit setzen die schwedischen Pioniere auf visuelles Feedback. Mit buntem Blinken honoriert ein eigens kontruierter Flaschencontainer, wenn Glasflaschen den Weg in die richtige Öffnung finden.


Auch die morgendliche Dusche kann zur Challenge werden, wie ein schweizer Start-up zeigt. Ein Wasserzähler wird ergänzt durch ein Display, das neben Temperatur und Wasserverbrauch auch einen kleinen Eisbären anzeigt. Je länger die Duschsession dauert, desto ungemütlicher wird es für den Eisbären auf seiner schmilzenden Eisscholle.


Zu viel Spiel verdirbt den Spaß 

Marktforscher sehen das Potenzial von Gamification längst noch nicht ausgeschöpft. Zukünftig könnten ganze Arbeitsprozesse zur kompetitiven Spielwiese werden. Wirtschaftsingenieure der TU München haben sich dazu den Bereich Logistik genauer angeschaut. Im Pilotprojekt wurden eintönige Handgriffe im Lager zur Teamchallenge. Highscores beim Einsortieren, Bonus-Punkte für fehlerfreies LKW-Beladen. Alle Mitarbeiter einer Schicht bilden eine Liga. Die Aussicht auf Belohnung motiviert und der Teamgedanke schweißt zusammen.


Gamification-Experten wie Roman Rackwitz sehen bei dem Trend aber die Gefahr, den Bogen zu überspannen - auch das unterhaltsamste Spiel wird irgendwann langweilig. "Mit der Zeit müssen auch die Herausforderungen wachsen, damit keine Sättigung eintritt", sagt Rackwitz. Klare Ziele und Regeln, direktes Feedback und positive Anreize seien deshalb die Grundlage, damit aus Spiel auch Spaß wird - und damit der Eisbär langfristig überlebt. Am Display wie im natürlichen Lebensraum.


Sendung: hr-iNFO Aktuell, 20.8.2019, 6 bis 9 Uhr
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