von Helena Weise
7. Oktober 2022
Der Schritt über die Türschwelle ihrer Wohnung braucht Zeit, so, als würde sie eine lange Reise antreten. Erst sagt sie ihren zwei Katzen tschüss, dann schließt sie die Zimmertüren, rüttelt an den Klinken. Sind sie auch wirklich zu? Halb im Hausflur dreht sie sich um, geht noch einmal die Türen ab, zieht und drückt, dann erst schließt sie die Wohnungstür hinter sich. Sie dreht den Schlüssel um, einmal, zweimal, dreimal, dann ein zweites Schloss.
Auf der Straße schaut Kerstin Mersinger nicht nach rechts, nicht nach links. Den Blick geradeaus, macht die 45-Jährige kleine Schritte, sie trägt Jeans und Wolljacke trotz der Hitze an diesem Tag, die langen Haare zum Pferdeschwanz im Nacken gebunden. Eigentlich meidet sie die Hauptstraße, aber bis zu der Tagesstätte sind es nur 150 Meter. Es ist Mittwoch, 7.30 Uhr. Sie geht an diesem Wochentag immer, wenn sie es schafft, für ein paar Stunden zur Arbeiterwohlfahrt (AWO), wo sie gemeinsam basteln, töpfern oder kochen. Vor kurzem hat Kerstin von vier auf fünf Stunden erhöht. Ein gutes Zeichen.
Noch ein Jahr zuvor war nicht daran zu denken. Statt der AWO bestimmte eine Psychose ihre Woche, den Alltag. Im Herbst verließ sie die Klinik, diesmal war sie für 34 Tage dort gewesen. Es war bereits der dritte Aufenthalt in jenem Jahr und die zweite Zwangseinweisung.
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