Harriet Lemcke

Medienexpertin. Kommunikationsspezialistin. Chefredakteurin. freie Autorin, Wentorf bei Hamburg (und bundesweit)

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Mut zum anders sein | frauenblick

Diversity in Unternehmen und als Geschäftsmodell

Menschen mit Handicap, Migrationshintergrund oder anderen Abweichungen von der Norm haben es in unserer Hochleistungsgesellschaft schwer, eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz zu finden. Studien belegen: Sie müssen deutlich mehr Bewerbungen schreiben, mehr Ablehnungen in Kauf nehmen und werden seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Viele Unternehmen denken um. Sie interessieren sich für die Fähigkeiten vermeintlicher Außenseiter. Konzerne wie SAP zum Beispiel setzen vermehrt auf Autisten.


"Autisten interessieren sich für Dinge und Themen deutlich mehr als für Menschen", sagt Dirk Müller-Remus, Gründer und Geschäftsführer des Berliner Start-ups Auticon. 2007 haben Ärzte bei seinem damals 14-jährigen Sohn das Asperger Syndrom diagnostiziert, eine spezielle Form von Autismus. Seitdem hat sich der Vater von vier Kindern intensiv mit dem Thema beschäftigt und daraus sein Geschäftsmodell entwickelt. 2011 ging mit Auticon die bundesweit erste IT-Beratungsfirma an den Start, die im Consulting ausschließlich Mitarbeiter mit Asperger Syndrom beschäftigt. Dabei arbeiten die Berliner wie andere IT-Beratungsfirmen auch: Die Consultants werden jeweils projektbezogen für mehrere Monate beim Kunden vor Ort eingesetzt.

Das Arbeiten in einer nichtautistischen Umgebung bringt etliche Herausforderungen mit sich. „Die sozialen Kompetenzen von Autisten sind deutlich unterentwickelt", erklärt Dirk Müller-Remus und ergänzt: „Autisten kommen schwer mit anderen Menschen ins Gespräch. Sie haben viel weniger Spiegelneuronen als Nichtautisten und können sich damit kaum in andere Menschen hineinversetzen, hassen Smalltalk und schließen sich häufig selbst aus Gemeinschaftsaktivitäten aus."


Bei Auticon werden die Consultants in ihren Projekten von Jobcoaches begleitet und betreut. Die Coaches bereiten die Mitarbeiter auf ihre Einsätze vor und beraten gleichzeitig die Betriebe, worauf sie im Umgang mit Autisten achten müssen. In ihrem speziellen Interessensgebiet haben Autisten ein enormes Nischenwissen. „Sie arbeiten konzentrierter, schneller und in einer höheren Qualität als Nichtautisten", sagt Dirk Müller-Remus. „Unsere Leute sind gesegnet mit einem ungewöhnlichen Blick fürs Detail." Schnittstellen programmieren, Datenbanken verbinden, Daten und Zahlen analysieren - alles wird in Windeseile und hoher Präzision erledigt. „Sie suchen keine Fehler, sie sehen sie einfach", sagt der Auticon-Chef.

Genau jene Eigenschaften sind es, weshalb sich Konzerne wie SAP und Vodafone für IT-inselbegabte Menschen interessieren. Erst kürzlich kündigte der Softwareriese SAP an, bis 2020 650 Autisten einstellen zu wollen. Das entspricht einem Prozent der weltweiten Belegschaft. Auch der britische Mobilfunkkonzern Vodafone setzt auf die Fähigkeiten der IT-Genies von Auticon. In den kommenden Jahren rechnet Dirk Müller-Remus mit einem weiter steigenden Bedarf. Die Zahl seiner Consultants soll binnen zehn Jahren von heute 26 auf dann 350 steigen.


Den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen wie demografischer Wandel, Fachkräftemangel oder Innovationsdruck begegnet auch die Otto-Gruppe mit Vielfalt. „Schon seit Gründungstagen ist eine nachhaltige Mitarbeiterorientierung fest in das Unternehmensleitbild verankert", sagt Sandra Widmaier, Direktorin Konzern Personal. Die Otto-Gruppe hat dafür vier Fokusgruppen definiert: „Frauen und Männer", „Jung und Alt", „verschiedene Nationalitäten" und „Menschen mit und ohne Behinderung".


Eine der zentralen Maßnahmen ist die 2012 neu gegründete Senior Expert Consultancy der Otto Group. Diese kann mit Pensionären aushelfen, wenn kurzfristig ein Fachkräfte-Engpass entsteht. Ehemalige Mitarbeiter hätten damit das Gefühl, weiterhin gebraucht zu werden und das Unternehmen nutze ihren Erfahrungsschatz und Leistungsstandard. Meistens sei eine Einarbeitungszeit gar nicht nötig. Eine klassische Win-Win-Situation, so Widmaier. Als eine weitere Maßnahme des Diversity Managements hat die Otto-Gruppe im vergangenen Jahr das konzernweite Entwicklungsprogramm „Boost Your Career" für weibliche Nachwuchskräfte gestartet. Verschiedene Maßnahmen sollen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördern - etwa Eltern-Kind-Arbeitsplätze, Ferienbetreuung oder Homeoffice-Vereinbarungen.

„Diversity-Themen werden bei uns in die bestehenden Prozesse integriert", erklärt die Personaldirektorin der Otto-Gruppe. Langfristiges Ziel sei eine Unternehmenskultur, die Vielfalt auf allen Ebenen wertschätzt und fördert. „Gemischte Teams sind nach unserer Erfahrung produktiver und innovativer - von der personellen Vielfalt erhoffen wir uns vor allem wirtschaftlichen Erfolg und andauernde Wettbewerbsfähigkeit." Sandra Widmaier bestätigt damit, was zahlreiche Studien belegen. Für die kommenden Jahre erwartet die Chefin Konzern Personal der Otto-Gruppe, dass Diversity für die Unternehmen immer selbstverständlicher wird. „Wir werden in Zukunft zunehmend vernetzter und globaler arbeiten", sagt Sandra Widmaier. „Unternehmen werden schlichtweg nicht darum herum kommen, eine vielfältigere Belegschaftsstruktur zu haben."

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