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Reportage

Immer im Grenzbereich

Der rote Actros 2648 torkelt von rechts nach links, als ob er statt Diesel Cognac im Tank hätte. Jetzt hebt der rechte Zwillingsreifen sogar von der Fahrbahn ab. Didier Benonie steuert kurz gegen. Die Bewegung erfolgt fast automatisch. „Durch abrupte Spurwechsel bringen wir das Fahrzeug in seine Grenzbereiche. Wenn bei einem Lenkausschlag nichts passiert, nennen wir das ‚Verspätung’.“ Während Didier den Lkw über die Piste im Reifentestzentrum von Michelin in Ladoux steuert, hat er kein einziges Mal seinen Redefluss unterbrochen. Fast hat man den Eindruck, dass Fahrer und Kommentator zwei verschiedene Personen sind.

Diese analytische Distanz zum eigenen Tun ist eine wichtige Anforderung an die Testfahrer bei Michelin. „Während des Tests muss der Fahrer sich völlig auf die Fahreindrücke konzentrieren, das Fahren muss automatisch erfolgen. Wenn der Lkw ausbricht oder zu kippen beginnt oder wenn ein Rad vom Boden abhebt, dann reagieren nur die Hände, das Gehirn des Testfahrers hingegen ist weiterhin voll auf das Verhalten des Fahrzeugs konzentriert“, beschreibt Cheftester Jacques Brange eine der Schwierigkeit des Metiers. Er und seine sechs Testfahrer führen in Ladoux, das nur einige Kilometer vom Konzernsitz des weltweit führenden Reifenherstellers in Clérmont-Ferrand entfernt ist, ausschließlich Vergleichstests zwischen alten und neuen Reifen durch: Haftung, Bremseigenschaften, Verhalten bei Lastwechseln. 3500 Mitarbeiter in den Michelin-Forschungs- und Entwicklungsabteilungen sorgen dafür, dass die Tester ständig volle Terminkalender haben. Dabei drehen sie nicht nur jeden Tag ihre Runden auf dem Testgelände, sondern testen das Verhalten der Reifen auch im normalen Straßenverkehr und vor allem unter speziellen klimatischen Bedingungen: So werden Wintertests in Finnland oder auf der nordjapanischen Insel Hokkaido durchgeführt, wo die Pisten des Michelin-eigenen Testgeländes mehrere Monate im Jahr vereist sind. Und sind Tests auf Schnee und Eis im Sommer erforderlich, zieht die Michelin-Testkarawane sogar nach Neuselland, weil es dort häufig im Juli noch schneit. „Dadurch können wir zwei Wintertests in einem Jahr durchführen“, rechtfertigt Jacques Brange die Reiseaktivitäten seiner Mitarbeiter.

Diese Flexibilität ist auch dringend notwendig, denn die sieben Testfahrer und ihre Techniker führen im Jahr etwa 3500 Tests durch. Diese hohe Zahl mag angesichts der nicht so sonderlich zahlreichen Modelle erstaunen, aber wenn man die verschiedenen Reifendimensionen und die bei Nutzfahrzeugen möglichen Konfigurationen mit in Betracht zieht, wird diese Zahl relativiert. Der Variantenreichtum wird auch durch die unterschiedliche Zusammensetzung des Reifengummis erhöht, denn der wird jedem Einsatzbereich angepasst: Im Fernverkehr werden andere Reifen aufgezogen als bei Baustellenfahrzeugen oder Fahrzeugen, die Material zu oder von Baustellen transportieren. Auch zwischen den Reifen für die Lenk- und Antriebsachse bestehen gewaltige Unterschiede, nicht zu reden von den Reifen für Anhänger und Auflieger. „Das Verhalten eines Reifens hängt auch von der Gesamtkonfiguration ab. Das kann zu Unsicherheiten im Fahrverhalten führen. Daher werden keine Konfigurationen am Markt angeboten, die nicht ausführlich getestet wurden.“

Die Ergebnisse dieser Tests geben den Ingenieuren wichtige Hinweise, was an den Prototypen noch geändert werden muss. Natürlich verlässt sich die Forschungs- und Entwicklungsabteilung nicht nur auf das subjektive Empfinden der Testfahrer. Deren Analysen werden mit Daten aus objektiven Messungen korreliert. Dafür gibt es computergesteuerte Reifentestmaschinen, in denen Reifenstruktur und Material Härte- und Ausdauertests unterworfen werden. Doch letztlich bleibt der Mensch immer noch das Maß aller Dinge. „Wir müssen nicht nur sicherstellen, dass ein neuer Reifen nicht zu einem Sicherheitsrisiko wird, wenn der Lkw in Grenzbereiche kommt, sondern auch dass das Fahrzeug angenehm zu fahren ist.“