Es gibt unzählige Gruselgeschichten zu erzählen über die "schönste aller Künste", die Musik. Man muss dazu gar nicht weit in die Vergangenheit reisen oder über den Kanon und #MeToo sprechen. Es reichen ein Besuch im Konzert und ein aufmerksamer Blick ins Orchester: Da schwingen Saiten aus den Därmen toter Tiere, es knallt Haut, die sich über hohle Holzkörper spannt, büschelweise wirbeln Haare von Lebewesen auf Bögen durch die Luft, dazwischen schimmert an Mundstücken das Schildpatt vom Panzer einst lebendig gekochter Schildkröten - und vieles davon hält ein Klebstoff zusammen, der aus aufgelösten Knochen besteht. Bravo! Das Orchesterpodium - ein veritables Horrorkabinett?
Padraig ó Dubhlaoidh war nicht der erste Instrumentenbauer, der sich nach Jahren der Arbeit Gedanken darüber machte, wie er seine Instrumente in Zukunft ethischer herstellen könnte. In seiner kleinen Werkstatt in den malerischen Malvern Hills in West-England arbeitet er schon länger beispielsweise an Alternativen zum Tropenholz aus dem Amazonas, mit dem viele Geigen in der Vergangenheit gebaut wurden oder noch immer gebaut werden. Jetzt ist ihm, nach zweijähriger Tüftelei im Corona-Lockdown, ein Durchbruch gelungen: Im Januar brachte er eine vollständig vegane Geige auf den Markt.
Andere Geigenbauer, darunter der 1993 geborene Jan Meyer aus Leipzig, hatten die Idee ebenfalls und versuchten sich schon vor ó Dubhlaoidh an einem Instrument, das ohne Knochenleim, Tropenhölzer und Rosshaar im Bogen auskommt. Entsprechende Modelle existierten vereinzelt also schon vor dem Erfolg des Iren. Der Unterschied: Seine Geige ist nun erstmals entsprechend zertifiziert worden, von der britischen Vegan Society.
Auf dem Foto sieht die 8000 Pfund teure vegane Geige dabei aus wie jede andere. Doch schon die Intarsien am Rand etwa bestehen nicht aus gefährdeten Baumarten, sondern aus Birnen- und Pappelholz, das mit wilden Beeren schwarz gefärbt wurde. Zusätzlich ermöglicht lokales Quellwasser einen nichttierischen Klebstoff. "Weil unser Planet an fast allen Fronten mit Krisen konfrontiert ist, wird die kollektive Stimme derjenigen, die eine gerechtere Zukunft wollen, jeden Tag stärker", sagt ó Dubhlaoidh in einem Statement für die Vegan Society. Ethische Musikerinnen und Musiker seien Teil dieser Bewegung: "Sie wünschen sich seit Langem eine Geige, die vollständig vegan ist und dennoch alle Qualitäten des klassischen Instruments beibehält."
Eine kurze Recherche zeigt: Bögen mit synthetischem Haar beispielsweise klingen tatsächlich anders als solche mit Rosshaar. Unter einem YouTube-Video der Violinistin Esther Abrami von Oktober 2019, in dem sie einen veganen Bogen im Vergleich zum Tierhaarbogen spielt, streiten sich die Zuschauerinnen und Zuschauer leidenschaftlich. Wärmer und facettenreicher sei der Klang des klassischen Bogens, direkter, kühler und klarer der des knallrot gefärbten neuen Modells - der eine tauge fürs Konzert, der andere allerhöchstens zum Üben im Keller. Aber vielleicht spielt Abrami die Takte aus Manuel de Fallas Danse Espagnole auch schlicht aus Gewohnheit mit dem Rosshaarbogen lebendiger und mit mehr Verve? Es ist schwer zu beurteilen. Am Ende gefällt den einen auch der Klang einer sterlingsilbernen Querflöte besser als der einer goldüberzogenen.
In der Instrumentenbau-Diskussion wird gern die klangliche Qualität ins Feld geführt, um letztlich beim Alten zu bleiben. Ó Dubhlaoidh widerspricht: Heimische Hölzer und tierfreie Leime müssten gar nicht bedeuten, dass das Instrument dem musikalischen Anspruch nicht mehr genügen könne. "Während meiner Experimente entdeckte ich, dass eine vegane Geige ungeahnte Vorteile hat" - und das seien nicht nur die Vorteile für Tiere, Gesellschaft und Umwelt. Vielmehr sei ihm als erfahrenen Geigenbauer aufgefallen, dass etwa "Klebstoffe auf tierischer Basis schädliche Auswirkungen haben", weil sie "starke Spannungen auf die Holzkomponenten hervorrufen. Der Kleber, der in meinen veganen Geigen verwendet wird, hat keinen solchen Effekt. Unabhängig von der Ethik ist das also auch eine akustische Verbesserung."
Und der junge Leipziger Geigenbauer Jan Meyer schloss im Frühjahr 2019 nach seinen ersten veganen Bau-Erfolgen immerhin: "Es konnten keine klanglichen Unterschiede festgestellt werden." Andere positive Effekte beobachten Musikerinnen und Musiker derweil schon länger: Saiten aus Stahl statt aus Darm beispielsweise sind schneller eingespielt, reißen nicht so schnell und reagieren weniger auf Handschweiß oder Temperaturschwankungen.
Ó Dubhlaoidh steht mit seiner Frage nach Nachhaltigkeit in einer zwar modernen, aber längst nicht vollständig neuen Reihe: 1989 beispielsweise sprach die Washingtoner Artenschutzkonferenz erstmals ein Handelsverbot für Elfenbein aus, in dessen Folge sich unter anderem der Klavierbau anpassen musste. Seit 2007 erforscht die britische NGO Julie's Bicycle systematisch die Umweltbelastung, die aus den Traditionen und Funktionsweisen verschiedener Kultursparten hervorgeht. Und der Hornist Markus Bruggaier gründete 2009 das "Orchester des Wandels", das sich künstlerisch mit der Klimakrise auseinandersetzt und auch das eigene Musizieren in diesem Kontext reflektiert. Entsprechend gibt es im Instrumentenbau seit einigen Jahren Firmen wie Herzblut-Instruments oder mezzo-forte, die vegane Instrumente herstellen, darunter Geigen aus Carbon und Trommeln, die mit Kunststoff statt mit Leder und Fell bezogen sind.
Das Horrorkabinett, als das sich der Klangkörper Orchester heute vielfach betrachten lässt, geht allerdings nicht auf bösen Willen zurück. Tierische Bestandteile in Instrumenten sind nicht unbedingt aus klanglichen Gründen verbaut worden, weil man zig Alternativen ausprobiert und dann entschieden hätte: Der Vormagen eines Kalbs polstert eine Querflöte haydntauglicher als Kork, Karton oder gar chemisch hergestelltes Polytetrafluorethylen! Nein, vor 100 Jahren gab es schlicht keine Alternative.