Ausgerechnet das Humboldt Forum! Der Ort, der wegen der Kolonialismus- und Raubkunstdebatte seit Jahren in der Kritik steht - ihn hat sich der Komponist und Gitarrist Marc Sinan nun für seine transkulturelle Installation und Performance Am Anfang ausgesucht. "Die Höhle des Löwen" nennt er das Humboldt Forum selbst und grinst, als hätte er insgeheim Freude daran, das Projekt mit seiner Kunst zu unterwandern, es ästhetisch und inhaltlich von innen heraus zu sprengen. Die "Stein gewordene Hypothek" des Humboldt Forums, so sagt er, müsse uns helfen, die Debatte richtig zu führen.
Auf fünf Leinwänden erzählen der Besucherin am Premierenabend Texte, Bilder und Menschen von unterschiedlichen Schöpfungsmythen aus Afrika und Europa, während drei Ensembles dazu gleichzeitig Musik machen. Zwei Tänzerinnen verknoten sich im Scheinwerferlicht ineinander, rennen und robben zwischen den Zuhörerinnen und Zuhörern umher, atmen und ächzen, bis eine von ihnen, die elektrisierende Kettly Noël, unter lautem Wehengeschrei eine Konsequenz auf die Welt bringt: Glaubt ja nicht, dass ihr irgendetwas von dem hier verstanden habt!
Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse zwingt zur Selektion, zur Ausblendung - in diesen 70 Minuten jedenfalls wurde man sich der Schwäche des eigenen Hirns bewusst wie lange nicht: Anthropozentrismus in a nutshell sozusagen. "Je radikaler und grandioser die Dinge angelegt sind, je verrückter - im Sinne von ver-rücken -, umso intensiver kann die ästhetische Erfahrung sein", sagt Marc Sinan im Gespräch Mitte Januar. "Und zwar auf beiden Seiten, Publikum und Künstler. Das ist ein Vorgang der Befreiung."
Am Anfang vereint dabei so ziemlich alles, was sich der Komponist und Gitarrist in den vergangenen Jahren zur Spezialität gemacht hat: politische und diskursive Aktualität, transkulturelle Fragestellungen und transdisziplinäres Arbeiten, eine radikal zeitgenössische, vielschichtige, avantgardistische musikalische Sprache - und eine tiefe persönliche Verbindung zu den Themen, die er behandelt. Marc Sinan kommt immer wieder auf Ideen, die nicht nur rhetorisch out of the box liegen: Seine Reise zu Vertretern der malischen Dogon oder der zentralafrikanischen Peulh, zu malischen Physikern und Museumsdirektoren für Am Anfang war nichts wirklich Ungewöhnliches für sein Schaffen, im Gegenteil. Für das 2010 uraufgeführte Konzert Hasretim (türkisch für "Meine Sehnsucht") etwa hatte er zwischen dem Schwarzen Meer und der armenischen Grenze Musikerinnen und Musiker getroffen und ihre traditionelle Kunst kennengelernt und dokumentiert - ähnlich wie für sein Kammermusikwerk Oksus, wofür er gemeinsam mit Markus Rindt, dem Intendanten der Dresdner Sinfoniker, durch Usbekistan reiste.
Es ist kein exotistischer Eifer, der Marc Sinan treibt, keine Lust am vermeintlich Fremden, das man aus europäischer Perspektive entdecken will - seine Motivation hinter alldem ist eine andere, eine vor allem persönliche, wie gesagt, und dadurch nicht weniger politische: In jungem Alter erfuhr er - ein sensibler Junge, der Gitarre spielte und Gedichte schrieb -, dass seine Großmutter Armenierin war, und im quasi gleichen Atemzug, dass er diese Tatsache in der Türkei besser nicht erwähnen sollte. Sie überlebte als kleines Mädchen den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs und wuchs bei einer türkischen Familie auf.
Der Völkermord ist Teil von Marc Sinans Geschichte, Teil eines vererbten Familientraumas auch - und wurde mehr und mehr zum Thema in seiner Kunst. Im Musiktheater Komitas beispielsweise, das 2015 zum 100. Jahrestag des Völkermordes im Maxim-Gorki-Theater uraufgeführt wurde, setzte er sich erstmals auf großer Bühne mit der Tat auseinander, verarbeitete den Gesang des armenischen Komponisten und Priesters Komitas Vardapet und anderer Kriegsgefangener in der Partitur.
Die auf seinen Reisen, in Gesprächen, der eigenen Biografie gesammelten Eindrücke, Klänge und Lebensrealitäten vereint und multipliziert Sinan dann in seinen Werken: Oft entsteht dabei ein akustischer Strudel aus analogem und digitalem Klang, mal mit großem Orchester, mal mit experimentellem Ensemble oder ganz nackt solistisch - ein Strudel, dem man sich intuitiv hingibt wie einer Naturgewalt. So mischen sich in Am Anfang der perkussive, pentatonisch dominierte Klang des malischen Orchesters mit Sinans minimalistisch gehaltenen Chören (gesungen von den Neuen Vocalsolisten Stuttgart) und der Eklektik eines Trios aus Klarinette, Schlagzeug und Gitarre, die Sinan selbst spielte. Eine radikale Gleichzeitigkeit von Avantgarden, wenn man so will, Max Czollek würde sagen: radikale Vielfalt.