Da stehen sie, Grete und Valtin, die beiden Liebenden, und schauen sich an. Sie haben sich - und wollen am liebsten doch ganz woanders sein. Nicht vor dieser nackten Betonmauer, neben der sich alte Lederkoffer stapeln und hinter der ein Kind nach seiner Amme, nach Grete, schreit. Weg vor allem von der Dorfgemeinschaft, die ihnen und ihrer jungen Liebe so feindselig gesinnt ist. "Komm, Valtin, lass uns flieh'n!", ruft sie ihm zu - und wird vom donnernden Glissando im Orchester recht unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Was die große Bühne des Magdeburger Theaters hier zeigt (in der Inszenierung von Olivia Fuchs), ist ein Gefängnis. Befreien kann Grete Minde sich nur, wenn sie dieses Gefängnis zerstört. Und das tut sie.
Szenenwechsel. Berlin-Mitte, ein paar Tage zuvor, Charlottenstraße 75: links ein Parkplatz, rechts ein massiver weiß geklinkerter Häuserblock. In den Coffeeshops und Kramläden im Erdgeschoss des Gebäudes unterhalten sich Leute, alles wirkt sauber. Die Atmosphäre ähnelt, wenngleich unter freiem Himmel, der in einem Großraumbüro. Man weiß, flanierend: Von 1945 bis kurz nach der Wende hat dieser Straßenabschnitt in Schutt und Asche gelegen - von dem Haus, das an dieser Stelle einmal stand, blieb keine Spur. Erst seit Kurzem erinnert ein Stolperstein daran, dass hier ein Musiker lebte, der Deutschland auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlassen musste. 1943 wurde der deutsch-jüdische Komponist Eugen Engel schließlich aus seinem Amsterdamer Exil deportiert und im Konzentrationslager Sobibor ermordet.
Dirigentin stolpert über einen Stolperstein - Stoff für LegendenKaum etwas ist von diesem Mann und seiner Kunst erhalten geblieben. Kein Wort findet man über ihn im wohl wichtigsten Musik-Nachschlagewerk Die Musik in Geschichte und Gegenwart, keinen einzigen Treffer liefert die Suche in den großen musikwissenschaftlichen Datenbanken, es gibt keine Arbeiten oder Aufsätze über ihn, nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag bietet das Netz. Eugen Engel ist ein Gespenst der Musikgeschichte - zumindest war er das lange. Am 19. Oktober 2019, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, führten die Sängerin Fee Brembeck und die Pianistin Nanami Nomura bei der Verlegung seines Stolpersteins in der Berliner Charlottenstraße einige seiner Lieder zum ersten Mal in Deutschland auf. Ihr Konzert markiert rückblickend den Beginn einer ausgesprochen interessanten musikalischen Wiederentdeckungsreise.