Als Namayani Saruni beschnitten wird, ist sie zehn Jahre alt. Mit einer alten Rasierklinge schneidet eine Frau ihre Klitoris und ihre Schamlippen ab. Überall ist Blut, Saruni fühlt nichts als brennenden Schmerz.
Heute, 14 Jahre später, kann sie sich genau daran erinnern. Auch, dass sie nicht geweint hat, weiß sie noch: "Mir wurde gesagt, ich darf nicht weinen. Wenn ich weine, bringe ich Schande über meine Familie. Ich würde keine Freunde kriegen, kein Mann würde mich heiraten und mein Vater meine Mutter verlassen." Also weint Saruni nicht, trotz der Schmerzen. Sie hält die Tränen zurück, bis sie das Bewusstsein verliert.
Saruni überlebt. Doch ihr Leidensweg beginnt an diesem Tag erst. Denn Sarunis Geschichte ist nicht nur die einer Genitalverstümmelung. Es ist die Geschichte eines schwer zu durchbrechenden Kreislaufs, der die Leben vieler Mädchen im ländlichen Norden Tansanias vorherbestimmt. Systematisch wird den Mädchen erst ihr Recht am eigenen Körper genommen, dann ihre sexuelle Selbstbestimmung, schließlich ihre Freiheit.
Und alles beginnt mit der Beschneidung.
Durch die Genitalverstümmelung werden aus den Mädchen Frauen - und damit Heiratsmaterial. Für ihre Väter ist die Rechnung einfach: Je früher sie ihre Töchter verheiraten, desto eher bekommen sie den Brautpreis. Doch je eher das Mädchen von ihrem Ehemann versorgt wird, desto schneller wird aus der Kinderbraut auch eine sehr junge Mutter. Der Kreis schließt sich mit der nächsten Generation an Mädchen, die in dieses System geboren wird.
Bei Saruni vergehen gerade einmal vier Wochen bis zum nächsten Schritt. Die Wunden ihrer Beschneidung sind noch nicht abgeheilt, da verheiraten ihre Eltern sie. "Ich kannte den Mann nicht", erzählt sie, "als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich erschrocken, da er so alt war wie mein Vater."
Dass Saruni gerade einmal zehn Jahre alt ist und die Verletzungen durch die Beschneidung noch frisch, interessiert ihren Ehemann nicht. "Als er mit dem Geschlechtsverkehr angefangen hat, war ich erst einen Monat verstümmelt. Es tat so weh", erinnert sie sich.
"Auch nachdem die Wunden verheilt sind, bleibt Geschlechtsverkehr für beschnittene Mädchen sehr schmerzhaft. Es ist wie eine Vergewaltigung", erklärt die tansanische Aktivistin Mackrine Shao-Rumanyika, die sich seit Jahren beim Stamm der Massai für die Rechte von Frauen engagiert.
Beschneidungen verursachen aber nicht nur Schmerzen, sie können auch töten. Immer wieder verbluten Mädchen, sterben an Infektionen oder Blutvergiftungen. Deswegen ist Genitalverstümmelung von Mädchen in Tansania offiziell seit mehr als 20 Jahren verboten.
Doch Stämme wie die Massai umgehen das Verbot, beschneiden die Mädchen im Verborgenen während der Schulferien - oder jetzt, während der Corona-bedingten Schulschließungen.
Um den Kreislauf zu durchbrechen, müsse man bei den Beschneidungen beginnen, glaubt Rumanyika. Mit ihrer NGO Health Integrated Multisectoral Development (HIMD) versucht sie deswegen, Beschneiderinnen die Gefahren und medizinischen Risiken ihrer Arbeit zu erklären. Außerdem schenkt sie ihnen Hühner und Schafe - wenn die Frauen dafür als Gegenleistung ihre Rasierklingen niederlegen. So können sie ihren Lebensunterhalt verdienen, und zwar ohne ständig eine Verhaftung fürchten zu müssen. 169 Frauen hat Rumanyika bereits umgestimmt.
Für Naishooki Laizer kam all das zu spät. Wie ihre Freundin Saruni ist Laizer ein Kind des Kreislaufs. Ihre Onkel, so erzählt sie, brachten ihre schwangere Mutter zu einem Medizinmann, um Laizers Geschlecht zu erfahren. Als dieser verkündete, sie werde ein Mädchen, suchten ihre Onkel einen Ehemann für sie.
Bereits vor ihrer Geburt verkauften sie Laizer - für acht Kühe. Mit acht Jahren wird Laizer beschnitten, mit zehn ihrem Mann übergeben. Er lässt sie hungern, schlägt und vergewaltigt sie. Laizer lässt die Qualen über sich ergehen, denn sie weiß: Es gibt keinen Weg zurück.
"Als menschliches Wesen ist es unser einziger Luxus, selbst zu wählen, wer wir sein wollen und das auch umzusetzen. Dieses Recht wird den Mädchen mit der Ehe weggenommen", sagt Rechtsanwältin Rebeca Gyumi.
Tansania gehört weltweit zu den Ländern mit den meisten Kinderehen. Vier von zehn Mädchen heiraten, bevor sie volljährig sind - und das lange Zeit völlig legal. Der Tanzania Marriage Act erlaubte es, dass Mädchen bereits im Alter von 14 Jahren heiraten konnten, obwohl Kinderehen nach Einschätzung von Unicef eine "Verletzung der Menschenrechte" bedeuten und ihre negativen Folgen durch zahlreiche Studien belegt sind: gehäufte Schulabbrüche, Teenagerschwangerschaften, eine höhere Wahrscheinlichkeit, in Armut abzudriften und Opfer häuslicher Gewalt zu werden.
Jahrzehntelang lobbyierten Aktivisten gegen das Gesetz - ohne Erfolg. Bis Rebeca Gyumi auf die Idee für eine ungewöhnliche Petition kam. In der klagte sie, der Marriage Act widerspreche dem durch die Verfassung garantierten Recht auf Gleichbehandlung - das Gesetz erlaubt es nämlich nur Mädchen, als Minderjährige verheiratet zu werden. Gyumi gewann den Gerichtsprozess 2016 und auch das durch die tansanische Regierung eingeleitete Berufungsverfahren vor dem High Court im vergangenen Jahr.
"Das gibt uns einen legalen Rahmen, um die Mädchen zu schützen und Verstöße gegen das Gesetz zu bestrafen", sagt Gyumi. Aber sie weiß auch: Das ist erst der Anfang.
In Dörfern lädt Gyumi zu Diskussionsrunden, um auch Männer als Unterstützer zu gewinnen. Um die Kinderehe abzuschaffen, muss sie vor allem aber den Kreislauf aus den Köpfen der Mädchen kriegen. Mit der von ihr gegründeten Msichana Initiative entstehen in Regionen mit besonders hohen Heiratsraten Klubs, Schul-AGs und Mentoringprogramme.
Gemeinsam stecken die Mädchen sich Ziele für Schule und Beruf, um wirtschaftlich unabhängig von ihren Männern und Familien zu werden, engagieren sich als Aktivistinnen für Gesetzesänderungen, klären Gleichaltrige über ihre Rechte auf sowie über Verhütung - das ist besonders in Regionen mit jungen Ehefrauen wichtig. Nach Angaben der Vereinten Nationen ist in Tansania mehr als eines von vier Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren schwanger oder hat bereits ein Kind geboren.
Bringt ein Kind ein Kind zur Welt, ist die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen bei der Geburt deutlich höher. Saruni ist zwölf, als sie schwanger wird. Das Baby ist zu groß für ihren zierlichen Körper. Durch die Narben von der Beschneidung kann sich Sarunis Geburtskanal nicht genug weiten. Nur durch einen Notkaiserschnitt überleben Mutter und Kind.
Eine gemeinsame Familienplanung mit den Ehemännern ist bei Stämmen wie den Massai schwierig. Eine große Zahl an Kindern symbolisiert Reichtum, auch wenn jedes weitere Kind die Armut in der Familie vergrößert. Aktivistinnen wie Rumanyika geht es darum, den Frauen etwas von der Kontrolle zurückzugeben, die sie als Mädchen mit der Beschneidung verloren haben.
Sie sollen selbst wählen können, wann und ob sie Kinder wollen - und ob sie es riskieren, wegen einer Schwangerschaft von der Schule verwiesen oder sogar verhaftet zu werden, wie es von Politik und Polizei immer wieder praktiziert wird. Seit 2002 ermöglicht ein Gesetz es staatlichen Schulen, schwangere Mädchen aus den Einrichtungen zu verweisen. Selbst Präsident John Magufuli glaubt, dass vor allem die Mädchen Schuld an ihrer Situation tragen und für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden müssen. 2017 versprach er seinen Anhängern, solange er Präsident sei, werde kein schwangeres Mädchen zur Schule zurückkehren.
Rumanyika versucht, den Frauen zu erklären, wie sie sich unabhängig von der Entscheidung ihrer Männer machen können. Weigern diese sich, Kondome zu benutzen, gibt es andere Optionen: Hormonimplantate sind langfristig und sicher bei der Verhütung, können von den Männern aber im Arm ertastet werden. Wer regelmäßig allein sein kann, setzt auf die Pille. Die meisten Frauen schleichen sich in unbeobachteten Momenten ins Krankenhaus für Monatsspritzen.
Saruni ist inzwischen 24 Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Sie hat sich dieses Leben nicht ausgesucht, es ist für sie entschieden worden. Ihrer Tochter und den anderen Mädchen in ihrem Dorf soll das nicht passieren. Also gründete sie eine Selbsthilfegruppe für Kinderbräute und junge Mütter.
Zwischen zwei Lehmhütten kommen die Frauen regelmäßig zusammen, tauschen sich über Verhütung aus, klären ihre Töchter auf und planen Investitionen. Bei jedem Treffen legen sie etwas Geld beiseite, um einen Brunnen zu bauen. Das Wasser wollen sie verkaufen, um damit das Schulgeld für ihre Kinder, eigenes Vieh und eine Kita zu finanzieren - und sich so wieder ein wenig Unabhängigkeit erkaufen.
Es ist eine Revolution, wenn auch eine leise. Auf der blauen, etwa zwei mal zwei Meter großen Plastikplane zwischen den Frauen spielen ihre Kinder. Es ist vielleicht die erste Generation, die außerhalb des Kreislaufs aufwächst.