Hannah Luisa Schultheiß

Freie Journalistin | Psychologin M.Sc., Berlin

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Anhaltende Trauerstörung: Trauern ohne Ende

Klaus und Sabine Weber* hatten noch viele Pläne. Das Paar war Mitte 50, in ein paar Jahren wollten sie sich ein Wohnmobil kaufen und um die Welt reisen. Dann aber kam der Krebs. Schon sechs Monate nach der Diagnose lag Klaus auf der Intensivstation. Sabine war fast Tag und Nacht bei ihm.

Eines Tages ging es Klaus Weber deutlich besser. Ein kurzer Moment der Ruhe, dachte Sabine. Sie ging nach Hause, duschte und schlief das erste Mal seit Langem wieder tief und fest. In dieser Nacht starb Klaus. Die Pflegerinnen aus dem Krankhaus versuchten, Sabine zu erreichen, doch sie hörte das Telefon nicht.

Sabine Weber war wütend auf sich selbst. Und auf das Krankenhaus: Warum hatten die Schwestern nicht mehr Aufwand betrieben, um sie zu erreichen? Sie fühlte sich schuldig - auch an Klaus' Krebserkrankung. Warum hatte sie ihn nicht davon abgehalten zu rauchen? Sie grübelte ohne Pause. Sie wurde bitter. Zog sich zurück, weinte viel, wollte keinen Sport mehr machen und keine Freunde mehr treffen. Denn alles, was sie tat, erinnerte sie an Klaus. So ging es drei Jahre. Sabine fand nicht mehr ins Leben zurück.

Klaus und Sabine Weber heißen eigentlich anders, ihre Geschichte ist etwas abgewandelt, verdichtet anhand weiterer Fälle typischer anhaltender Trauer und erzählt von Rita Rosner. Sie ist die ehemalige Therapeutin von Sabine. Rosner behandelte Sabine wegen ihrer nicht enden wollenden Trauer.

Denn auch wenn Trauer um einen verstorbenen Menschen keine psychische Erkrankung ist: Es gibt Trauer, die nicht mehr normal ist oder, wie Therapeuten sagen, klinisch auffällig. Sabines Verlauf war ein solcher: Sie schaffte es nicht mehr, allein mit der Situation fertig zu werden und brauchte professionelle Unterstützung.

Seit Erscheinen der elften Auflage des ICD, des internationalen Katalogs, in dem Krankheiten systematisiert werden, in diesem Jahr gibt es für pathologische und lange andauernde Trauer eine neue Diagnose: die anhaltende Trauerstörung.

Diese ist geprägt durch eine starke Sehnsucht ( im Englischen: longing). Außerdem kreisen die Gedanken fast permanent um den Verstorbenen oder um die Todesumstände. Manche leugnen den Verlust des geliebten Menschen sogar. Die Betroffenen können sich kaum auf etwas anderes konzentrieren, leiden unter starken Schuldgefühle oder Wut (American Journal of Psychiatry: Prigerson et al., 1996). In wichtigen Bereichen des täglichen Lebens, der Arbeit oder der Familie etwa, haben die Betroffenen große Probleme.

So war es auch bei Sabine Weber. Ihr Ehemann und sie waren ein lebenslustiges Paar. Sie hatten viele Freunde, waren gemeinsam in verschiedenen Förder- und Sportvereinen. Nach Klaus' Tod zog sich Sabine jedoch komplett zurück, berichtet ihre ehemalige Therapeutin Rosner. Sie vernachlässigte sich selbst so sehr, dass ihre Kinder sich große Sorgen machten - und ihrer Mutter eine Therapie empfohlen. Dort erhielt Sabine nach drei Jahren schwerer, belastender und einschränkender Trauer schließlich die Diagnose: anhaltende Trauerstörung.

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