Streitsüchtig, intrigant, schwer behandelbar. Der Albtraum jeder Therapeutin. Das sind nur ein paar der vielen Vorurteile über Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Emma Lowis kennt solche Zuschreibungen gut. Oft höre sie: "Borderlinerinnen sind absolut gefährlich, manipulativ oder nicht überlebensfähig." Deshalb spricht Lowis selten über ihre Diagnose und möchte nicht, dass ihr echter Name öffentlich wird. An einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu leiden, fühle sich an, als sei man "eingesperrt in einen Fahrstuhl, dessen Knöpfe innen nicht richtig funktionieren und der von außen bedient wird", sagt Lowis.
"Die emotionale Fahrt geht nach oben, geht nach unten, ausgelöst von Triggern, die ich lange nicht erkannt habe." Früher hätten ihre Emotionen sie hinauf in höchste Höhen gezogen, um sie danach in schwersten Trübsinn zu stürzen. Dazwischen herrschte Leere und Hilflosigkeit. Lowis ist heute 31 Jahre alt. Und bezeichnet sich als psychisch relativ stabil. Bei einer Diagnose, die auch als emotional instabile Persönlichkeitsstörung Typ Borderline bezeichnet wird, ist das eine große Leistung.
Die gängige Überzeugung, Borderline sei nicht gut behandelbar oder gar chronisch, gilt mittlerweile als widerlegt. Die Persönlichkeitsstörung lässt sich heute dank zunehmend besserer Psychotherapie-Konzepte recht erfolgreich behandeln (Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie: Fiedler, 2018). Eine Langzeituntersuchung zeigte, dass nach zehn Jahren 93 Prozent der Betroffenen über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren symptomfrei waren. Lange beschwerdefreie Zeiträume sind offenbar möglich, doch die Studie stellt ebenfalls fest: Eine vollständige Genesung, wie bei manchen anderen psychischen Erkrankungen, ist schwieriger zu erreichen (American Journal of Psychiatry: Zanarini et al., 2012).
Borderline
Persönlichkeitsstörungen entstehen meist früh, schon in der Kindheit. Sie werden in verschiedene Subgruppen unterteilt, Borderline etwa gehört zur Gruppe B.
Ebenfalls zu dieser Gruppe zählen: die histrionische Persönlichkeitsstörung, gekennzeichnet durch sehr theatralisches und aufmerksamkeitssuchendes Verhalten, die narzisstische Persönlichkeitsstörung, bei der Menschen besonders viel Bewunderung brauchen, allerdings wenig Mitgefühl für andere haben. Und außerdem die antisoziale Persönlichkeitsstörung, die sich auszeichnet durch einen Mangel an Verantwortungsgefühl und manipulatives Verhalten.
Menschen, die an diesen Störungen erkrankt sind, haben bestimmte Verhaltensweisen gemein: Sie reagieren etwa oft launisch, dramatisch oder besonders emotional.
Erste Symptome oder Hinweise darauf, dass eine Persönlichkeitsstörung vorliegt, zeigen sich häufig im Jugendalter. So war es auch bei Emma Lowis: Sie wurde depressiv und verletzte sich selbst. Da sie impulsiv handelte und sehr schnell in Rage geriet, wurde zunächst ADHS vermutet. Zwar fiel auch das Stichwort Borderline im Rahmen einer Therapie, doch die tatsächliche Diagnose wurde damals noch nicht ausgesprochen. Mit Ritalin, einem Medikament zur Behandlung von ADHS, ging es ihr zunächst besser, doch dann war sie wegen einer multiplen Persönlichkeitsstörung und einer Essstörung erneut in psychotherapeutischer Behandlung. Als sie mit 21 Jahren schließlich die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung erhielt, war das eine Erleichterung. Endlich wusste sie, was mit ihr los war.
Generell wird empfohlen, die Borderline-Persönlichkeitsstörung erst zu diagnostizieren, wenn die Symptome über einen längeren Zeitraum bestehen. Zu unklar ist die Trennung zwischen pubertären Problemen und Symptomen der Störung. Das weiß auch Stefan Röpke. Er leitet den Bereich Persönlichkeitsstörungen der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin. "Ein Drittel aller Jugendlichen verletzt sich mindestens einmal selbst, indem sie sich beispielsweise schneiden, verbrennen oder gegen Objekte schlagen", sagt er. Doch obwohl selbstschädigendes Verhalten ein Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung sein kann, muss es eben nicht darauf hindeuten. Der allergrößte Teil dieser jungen Menschen bleibe im Erwachsenenalter unauffällig, leide also nicht unter psychischen Erkrankungen.
Wo hört selbstverletzendes Verhalten als Reaktion auf pubertäre Überforderung auf und wo fängt eine Borderline-Persönlichkeitsstörung an? Und welche Risikofaktoren können dazu führen, dass Menschen daran erkranken?
Die Symptome, die vorliegen müssen, um eine Diagnose zu stellen, lassen sich in verschiedene Cluster gliedern. "Eines davon ist die instabile Beziehungsgestaltung", sagt Röpke. Einerseits möchten die Betroffenen Beziehungen zu anderen Menschen eingehen. Andererseits haben sie große Angst davor, verlassen zu werden. "Das zweite Merkmal ist die Impulsivität", sagt Röpke. Alkohol trinken bis zum kompletten Absturz, exzessive Essanfälle und anschließendes Erbrechen, viele One-Night-Stands, die hinterher bereut werden.
"Außerdem bestehen Probleme bei der sogenannten Affektregulation", sagt Röpke. Die Betroffenen leiden unter sehr schnell wechselnden, übermäßig starken Gefühlen und können sich nur schwer selbst beruhigen. Heftige Schuldgefühle, Wutanfälle, Selbsthass und Euphorie können sich innerhalb kürzester Zeit abwechseln und scheinbar durch Kleinigkeiten ausgelöst werden.
"Wenn Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung versuchen, diese Gefühle zu unterdrücken, dann entsteht hoher Stress", sagt Röpke. Dieser münde häufig in selbstschädigendem Verhalten, wie etwa das bekannte Ritzen an Unterarmen oder Oberschenkeln. Auch in exzessivem Sport oder Hungern könne dieser Stress Ausdruck finden. Durch solche Verhaltensweisen löse sich die Anspannung, allerdings nur für kurze Zeit. Im schlimmsten Fall kann der enorme Stress sogar zum Suizid führen oder zu sogenannten parasuizidalen Handlungen, also hoch riskantem Verhalten mit potenziell tödlicher Folge.
Suizidberichterstattung
ZEIT ONLINE geht behutsam mit dem Thema Suizid um, da es Hinweise darauf gibt, dass bestimmte Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nennen dieses Phänomen Werther-Effekt, in Anlehnung an Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers, nach dessen Veröffentlichung sich eine Reihe junger Männer das Leben nahm.
Nachdem der deutsche Nationaltorwart Robert Enke 2009 sein Leben beendet hatte, nahm die Zahl der Suizide auf Bahnstrecken in Deutschland zu. Markus Schäfer und Oliver Quiring von der Universität Mainz berichten, dass in den ersten vier Wochen nach Enkes Tod in Deutschland 133 Suizide mehr verzeichnet wurden, als laut der amtlichen Todesursachenstatistik für diesen Zeitraum zu erwarten gewesen wäre ( Schäfer & Quiring, 2013).
In der Psychologie gibt es verschiedene Erklärungsansätze für den Werther-Effekt. Als anerkannt gilt vor allem die Theorie des Modelllernens des Psychologen Albert Bandura, die besagt, dass sich Menschen Verhaltensweisen aneignen, die sie zuvor bei anderen Menschen beobachtet haben - besonders, wenn sie sich mit der Person identifizieren können.
Untersuchungen legen nahe, dass bestimmte Formen der Berichterstattung ein besonders hohes Identifizierungspotenzial bieten und deshalb vermieden werden sollten ( Ziegler & Hegerl, 2002). Eine umfassende Untersuchung von Forschern der New Yorker Columbia University hat gezeigt, dass häufige, prominente und reißerische Berichterstattung über Suizide Jugendliche zur Nachahmung motiviert ( Gould et al., 2014). Es ist wahrscheinlich, dass soziale Medien den Werther-Effekt noch verstärken, untersucht wurde das bislang nicht.
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention rät dazu, keine Fotos oder Abschiedsbriefe der betreffenden Person zu veröffentlichen und heroisierende oder romantisierende Beschreibungen des Suizids zu vermeiden. Das Motiv für die Selbsttötung dürfe höchstens allgemein, aber nicht als nachvollziehbar dargestellt werden. Der Deutsche Presserat empfiehlt ebenfalls Zurückhaltung. Dies gelte insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Umstände wie Ort und Methode der Selbsttötung.
Völlig ausklammern wird ZEIT ONLINE das Thema Suizid nicht, da es gesellschaftlich relevant ist und viele Menschen betrifft, etwa schwer an Depressionen Erkrankte oder Angehörige.
Suizidgedanken ähneln einem Teufelskreis, der unausweichlich scheint, sich aber durchbrechen lässt. Häufig sind sie eine Folge psychischer Erkrankungen wie Psychosen, Sucht, Persönlichkeitsstörungen und Depressionen, die mit professioneller Hilfe gelindert und sogar geheilt werden können.
Betroffene finden zum Beispiel Hilfe bei der Telefonseelsorge unter den Telefonnummern 0800 - 111 0 111 und 0800 - 111 0 222. Die Berater sind rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym, kostenlos und wird weder von der Telefonrechnung noch vom Einzelverbindungsnachweis erfasst. Direkte Anlaufstellen sind zudem Hausärztinnen sowie auf Suizidalität spezialisierte Ambulanzen in psychiatrischen Kliniken, die je nach Bundesland und Region unterschiedlich organisiert sind. Eine Übersicht über eine Vielzahl von Beratungsangeboten für Menschen mit Suizidgedanken gibt es etwa auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Wer den Verdacht hegt, dass ein Freund oder Angehöriger an Suizid denkt, sollte ihn zunächst darauf ansprechen und dabei unterstützen, professionelle Hilfe zu suchen. Wichtig sei es, auf Warnsignale zu achten und diese ernst zu nehmen - etwa 80 Prozent aller Selbsttötungen werden zuvor angekündigt.
Besorgniserregend seien nicht nur klare Suiziddrohungen und -ankündigungen, sondern auch indirekte Äußerungen der Hoffnungslosigkeit wie "Es hat alles keinen Sinn mehr" oder "Irgendwann muss auch mal Schluss sein". Zudem könnten bestimmte Verhaltensweisen auf Suizidgedanken hindeuten. So wollen suizidgefährdete Menschen häufig ihre Angelegenheiten ordnen, also zum Beispiel Wertgegenstände verschenken oder ihr Testament aufsetzen. Auch stimmt der Entschluss zur Selbsttötung manche Menschen mit Depressionen ruhiger und weniger verzweifelt, was häufig als Besserung des psychischen Zustands missinterpretiert wird.
Hilfe für Angehörige bietet neben der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention auch der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker unter der Rufnummer 0180 - 59 50 951 und der Festnetznummer 0228 - 71 00 24 24 sowie der E-Mail-Adresse [email protected].
Ein weiteres Merkmal ist die innere Leere, die Abwesenheit jeglicher Gefühle, was Betroffene als extrem bedrückend empfinden. Zusätzlich kommen sogenannte Dissoziationen vor: "Manche Betroffene spüren ihren Körper nicht mehr richtig oder können die Umgebung nicht mehr richtig wahrnehmen", sagt Röpke. Auch Emma Lowis hat das erlebt. Sie sagt, Dissoziieren fühle sich an, als wolle der Geist die Verbindung zum Körper aufrechterhalten, aber das klappe nicht. "Vielleicht kann man es sich wie einen Router vorstellen, der das Signal zum Internet sucht." Auch Lowis' Wahrnehmung von anderen Menschen ist in diesen Momenten verändert. "Ich sehe anders. So als ob ein Filter auf der Kameralinse liegt. Die Menschen wirken unecht und die Situation, in der ich mich befinde, wirkt, als würde ich mich in einer Kulisse bewegen." Bei ihr dauert der Zustand meist nur wenige Minuten.
Entscheidend ist bei all diesen Symptomen, wie stark und wie häufig sie auftreten. Viele kommen in milderer Form durchaus auch in der Allgemeinbevölkerung vor. Dabei handele es sich eigentlich um ein Kontinuum, sagt Röpke, manche Menschen haben mehr Stimmungsschwankungen, andere weniger. "Ab einer bestimmten Ausprägung der Symptome sehen wir sie dann als Indiz für die Borderline-Persönlichkeitsstörung."
In Deutschland leiden circa 1,3 Millionen Menschen unter der Störung (Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie: Fiedler, 2018). Zwar fanden ältere Studien einen Unterschied zwischen den Geschlechtern, was zu der Annahme führte, Frauen seien häufiger betroffen als Männer (Journal of Personality Disorders: Swartz et al., 1990). Neuere Studien widerlegen dies jedoch (The Journal of Clinical Psychiatry: Grant et al., 2008). Röpke vermutet: "Frauen suchen sich häufiger professionelle Hilfe, gehen in eine Therapie oder in die Psychiatrie."
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Doch warum erkranken Menschen überhaupt an der Borderline-Störung? In der Wissenschaft geht man davon aus, dass Gene eine Rolle spielen. So deuten Studien auf eine hohe familiäre Häufung hin (Comprehensive Psychiatry: Torgersen et al., 2000). "Kinder von Müttern mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen haben später oft ein wesentlich höheres Risiko ebenfalls zu erkranken", sagt Stefan Röpke. Aber auch die Umwelt spielt eine Rolle. Das beginne schon vor der Geburt, im Bauch der Mutter. "Wenn Mütter während der Schwangerschaft psychisch krank sind, ist das auch ein Risikofaktor." Noch vor der Geburt können das Verhalten und die psychische Verfassung der Mutter also Einfluss auf die spätere psychische Gesundheit des Kindes nehmen. Dies zeigt eine Studie, die mehr als 6.000 Mütter während der Schwangerschaft begleitete. Neben einer Depression waren auch Alkohol- und Tabakkonsum sowie Angststörungen während der Schwangerschaft Faktoren, die ein späteres Auftreten von Borderline-Symptomen bei den Kindern wahrscheinlicher machten (Psychological Medicine: Winsper et al., 2015).
Ist das Kind dann auf der Welt, spielt die Erziehung eine große Rolle. Wie verhalten sich die Eltern? Sind die ersten Bindungen liebevoll und stabil oder unsicher? Die Einflussfaktoren sind vielschichtig. Das heißt also einerseits: Selbst wenn es den Eltern möglich wäre, in der Erziehung alles richtig zu machen, könnten genetische Faktoren dazu führen, dass das Kind an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankt. Andersherum kann ein belastendes Umfeld in der Kindheit die Krankheit auch ohne ausgeprägte genetische Vorbelastung auslösen.
Emma Lowis wurde als kleines Kind misshandelt und sexuell missbraucht. Das Jugendamt nahm sie aus ihrer leiblichen Familie. Doch in der Pflegefamilie war es nicht besser, sagt sie. Nur anders schlimm. "Ich wurde geschlagen, beschimpft und oft war das Essen verdorben", erzählt Lowis. "Ich erinnere mich daran, dass ich oft schmierige, schimmelige Wurst vorgesetzt bekam. Als ich sie nicht essen wollte, hieß es: 'Iss das oder gar nichts.'"