Es begann mit dem Händewaschen nach der Schule. Erst waren es einige Minuten. Doch die Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus wuchs und so verbrachte Lara Meyer* immer mehr Zeit im Badezimmer. Irgendwann wusch sie sich 45 Minuten lang die Hände. Mindestens. Sie konnte nicht anders. Und damit hörte es nicht auf: Aus Angst vor Krankheitserregern wollten sie nur noch in ihrem Zimmer bleiben. Die Vorstellung, sich irgendwo draußen hinsetzen zu müssen, empfand sie als bedrohlich. Lara zog sich mehrmals am Tag um und warf die getragenen Klamotten sofort in die Wäsche. Sie wollte nicht mehr umarmt werden. "Ich konnte an fast nichts anderes mehr denken als an meine Angst vor dem Coronavirus und vor anderen Keimen", sagt Lara Meyer.
Bei der 14-Jährigen wurde schließlich eine Zwangsstörung diagnostiziert. So wie Lara Meyer geht es offenbar vielen Kindern während der Pandemie. Daten von Krankenversicherungen zeigten schon im vergangenen Jahr einen deutlichen Anstieg psychischer Erkrankungen. Die Häufigkeit, mit der Kinder und Jugendliche an einer Zwangsstörung erkranken, beträgt - unabhängig von der Pandemie - ungefähr zwei Prozent (Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie: Jans et al. 2008). Doch wie viele tatsächlich unter der Erkrankung leiden, ist nicht bekannt, denn häufig sind die Zwänge den Betroffenen so peinlich, dass sie ihre Symptome lange verheimlichen (European Child and Adolescent Psychiatry: Thomsen, 1994).
Auch Lara Meyer versuchte eine Weile lang, die Zwänge vor ihren Eltern zu verbergen, erfand Ausreden. Um ihr Zimmer nicht verlassen zu müssen, sagte sie zum Beispiel, sie sei müde oder müsse lernen. Doch irgendwann war die Erkrankung nicht mehr zu übersehen. Ihre Hände wurden vom vielen Waschen rau und blutig.
Ihre Eltern waren voller Sorge, sie fragten immer wieder, was los sei. Als Lara die Spannung nicht mehr aushielt, vertraute sie sich ihnen an. Sie begann eine Therapie, zunächst ambulant, doch nach zwei Monaten empfahl die Therapeutin einen Aufenthalt in der Klinik.
Viele Eltern kennen von ihren Kindern einen mitunter starken Drang nach den immer gleichen Abläufen: Wochenlang muss dieselbe Einschlafgeschichte vorgelesen werden, auf den Tisch soll jeden Tag das gleiche Gericht und aus dem Haus geht es nur noch in der Lieblingshose. Wo aber hört das kindliche Bedürfnis nach Ritualen auf - und wann ist die Grenze zu einer Zwangsstörung überschritten?
Quälende Gedanken und unsinnige HandlungenFeste Abläufe und Gewohnheiten gehören zu einer normalen Entwicklung von Kindern dazu. Die Struktur verschafft ihnen Sicherheit, Zuverlässigkeit und ein Gefühl von Geborgenheit (Hogrefe Verlag: Wewetzer & Wewetzer, 2019). Zwangsstörungen hingegen werden als sehr unangenehm empfunden. Oft stehen die Betroffenen unter einem enormen Leidensdruck, weil sie ihr Leben nicht mehr wie gewohnt führen können.
Typische Merkmale können sowohl Zwangsgedanken als auch Zwangshandlungen sein. "Meist bedingen sie sich gegenseitig und kommen nur selten unabhängig voneinander vor", sagt Simone Pfeuffer, Chefärztin der Jugendabteilung der Schön Klinik Roseneck. Sie betreut auch Lara Meyer. "Zwangsgedanken drängen sich den Betroffenen auf und beschäftigten sie ständig in der gleichen Form. Fast immer sind diese Gedanken bedrohlich oder quälend", sagt Pfeuffer.
Am häufigsten ist bei Kindern die Angst vor Verschmutzung. Viele befürchten auch, "dass etwas Schlimmes passiert". Zum Beispiel, dass die Eltern einen Autounfall haben könnten, der Hund weglaufen oder das Haus abbrennen könnte. Der Versuch, diese Gedanken zu unterdrücken, bleibt in der Regel erfolglos. Die befürchteten Katastrophen drängen sich immer wieder ins Bewusstsein und lösen massive Unruhe, Anspannung oder Ekel aus.
Typische Zwangshandlungen bei Kindern sind Kontrollzwänge, Ordnungszwänge oder Reinigungs- und Waschzwänge (Acta Psychiatrica Scandinavica: Mancebo et al. 2008). Von einem Waschzwang sind bei Kindern typischerweise die Hände betroffen. Ein Reinigungszwang äußert sich zum Beispiel in dem Bedürfnis, ständig die Kleidung zu waschen. Und wenn ein Kind hartnäckig darauf besteht, immer wieder zu überprüfen, ob Türen und Fenster wirklich verschlossen sind, liegt eventuell ein Kontrollzwang vor.
Generell gilt: Alle Zwänge haben eine Bedrohungs- und eine Abwehrseite. Ein Beispiel: Ein als unkontrollierbar erlebter Gedanke signalisiert Bedrohung: "Wenn du nicht noch einmal kontrollierst, ob du die Türe abgeschlossen hast, passiert etwas Schlimmes." Um diese Ängste abzuwehren und die Gedanken zu beruhigen, folgt eine Zwangshandlung. Etwa indem die Betroffene wiederholt kontrolliert, ob die Tür auch wirklich abgeschlossen ist.
Bei Lara Meyer kamen die Zwänge schleichend. Im ersten Pandemie-Lockdown nahm sie die Situation noch gelassen. Doch im zweiten Lockdown kam die Furcht vor der Krankheit - und damit kamen auch die Zwänge. Das Händewaschen beruhigte sie. Jedoch nur für kurze Zeit. "Ich dachte: Gestern habe ich 20 Minuten gewaschen, also muss ich es heute mindestens auch wieder 20 Minuten machen, sonst stecke ich mich sicher an", sagt sie.
Dass die Zwangshandlungen mit der Zeit ein immer größeres Ausmaß annehmen, gehört zum Krankheitsbild dazu, sagt Simone Pfeuffer. Sie dienen den Betroffenen dazu, die Angst zu reduzieren - doch das funktioniere nur kurzfristig und deshalb müssten die Maßnahmen immer weiter gesteigert werden.
Den Betroffenen ist dabei meist klar, dass die Handlungen und auch die Angst übertrieben sind. "Gerade deshalb ist den meisten die Störung so unangenehm", sagt Pfeuffer. Die Einsicht, dass die Gedanken und Handlungen unsinnig sind, ist häufig mit Scham verbunden. Auch Lara Meyer merkte, dass ihre Vorsichtsmaßnahmen nicht im Verhältnis zur Gefahr standen: "Bekanntlicherweise sind Schmierinfektionen bei Covid-19 sehr unwahrscheinlich. Trotz dieses Wissens ist die Angst vor Ansteckung übermächtig - weshalb ich es ohne Waschen schwer aushalte", sagt sie.