ZEIT ONLINE: Viele Menschen, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder miterlebt haben, reagieren auf die Bilder aus der Ukraine mit Angst oder Abwehr. Was genau passiert bei ihnen?
Gereon Heuft: Bilder sind sehr starke Reize, wesentlich stärker als ein Text zum Beispiel. Sie können die Menschen so sehr an ihre eigenen Erfahrungen zurückerinnern, dass sie die Bilder nicht mehr ertragen können. Studien gibt es speziell zur noch keine, da dieser Angriffskrieg erst seit Kurzem besteht. Aber wir kennen das Phänomen bei Spielfilmen, die zum Beispiel Schicksale aus dem Zweiten Weltkrieg von Flucht und Vertreibung, Panzern und Bomben nachzeichnen. Wenn schon Spielfilme Traumatisierungen wieder aufleben lassen können, dann ist davon auszugehen, dass reale Bilder noch schwerere Folgen haben.
ZEIT ONLINE: Was konkret kann passieren?
Heuft: Es kann zu einer sogenannten Traumareaktivierung kommen. Dabei löst ein Reiz, zum Beispiel ein Bild, Symptome zurückliegender traumatischer Erinnerungen wieder aus. Wenn wir von alten Menschen sprechen, dann kann diese Traumatisierung auch über ein halbes Jahrhundert zurückliegen.
ZEIT ONLINE: Muss die Traumatisierung auch damals schon Symptome wie zum Beispiel Albträume ausgelöst haben, damit man von einer Reaktivierung sprechen kann?
Gereon Heuft
geboren 1954, ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Münster. Er ist der ärztliche Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates Psychotherapie und Mitglied des Kuratoriums Deutsche Altershilfe.
Heuft: Nicht alle Menschen, die damals schlimme Erfahrungen gemacht haben, wurden tatsächlich traumatisiert. Manche konnten die belastenden Ereignisse wahrscheinlich aufgrund einer ihnen verfügbaren Resilienz verarbeiten. Bei denjenigen, die unter Symptomen wie Flashbacks oder Albträumen litten, sprechen wir Kliniker von einer Traumatisierung. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Straßen wahrscheinlich voller akut traumatisierter Menschen, wobei es diese Begrifflichkeit damals noch nicht gab.
ZEIT ONLINE: Wurde das damals als Problem erkannt?
Heuft: Nein, es gab zu der Zeit weder die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS, noch Behandlungsmöglichkeiten. Viele Menschen haben auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Versorgungslage bis 1949 noch immer schlechter wurde, ums blanke Überleben gekämpft. Irgendwelche Symptome wurden möglichst ignoriert. Man weiß aber aus Berichten, dass viele Kriegsheimkehrer von Albträumen geplagt waren. Häufig litten Menschen unter den Symptomen einer Traumatisierung, die zum Teil irgendwann spontan wieder weggegangen sind.
ZEIT ONLINE: Heißt das, ohne frühere Traumatisierung mit Symptomen kann auch kein Trauma reaktiviert werden?
Heuft: So einfach ist es nicht. Es kann auch sein, dass die Menschen damals gar keine Symptome zeigten, dies aber an den äußeren Bedingungen nach dem Krieg lag. Weil die Anforderungen in der Zeit so groß waren, haben viele die Erfahrungen einfach verdrängt. Die sogenannte Kriegskindergeneration ist heute zwischen 72 und 96 Jahre alt. Sie waren zu jung, um an Kampfhandlungen teilzunehmen, aber sie mussten sich unter unsäglichen Bedingungen durchschlagen. Zerbombte Städte, zu wenig Essen, beengter Wohnraum. Dann kam das Wirtschaftswunder, eine Ausbildung, sie waren dann schnell beruflich erfolgreich. Diese Menschen haben dazu geneigt, ein übernormales Erwachsenenleben zu führen. Nichts wegwerfen, immer sparen, ein hohes Maß an Sicherheit. Sie wollten das Leben immer unter Kontrolle behalten.
ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt dann das fortgeschrittene Lebensalter, wenn ein Trauma zurückkehrt?
Heuft: Insbesondere durch den körperlichen Alterungsprozess erleben viele Menschen ein Stück Verlust dieser Kontrolle, die ihnen so viel Sicherheit gegeben hat. Durch den Alterungsprozess sind die Menschen mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein konfrontiert. Vielleicht kommen sie sogar in eine lebensbedrohliche Situation. Oft höre ich: Ich habe über 70 Jahre nicht mehr dran gedacht, aber jetzt fangen die Bomben in meinem Kopf wieder an zu fallen. Durch das Alter steigt also das Risiko, eine Traumareaktivierung zu erleiden.
ZEIT ONLINE: Das Alter allein kann also auch Traumatisierungen reaktivieren?
PTBS
Nicht jeder Mensch, der eine belastende Situation erlebt, bekommt psychische Probleme. Ist ein Erlebnis aber traumatisierend, beeinträchtigt also das Leben der Betroffenen, spricht man zunächst von einer akuten Belastungsstörung. Wenn die Probleme länger als einen Monat anhalten, wird daraus eine Posttraumatische Belastungsstörung, eine PTBS. Traumata entstehen etwa durch die Konfrontation mit dem Tod, schwere Verletzung oder sexuelle Gewalt - möglicherweise auch dann, wenn die Personen nicht selbst betroffen, sondern Zeugin waren. ( Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5 : APA 2015 ).
Heuft: Ja und das passiert vermutlich über drei Faktoren, die sich gegenseitig begünstigen. Der erste: Im Alter haben die Menschen mehr Zeit. Die Nachkriegskinder haben ihre Belastungen durch die vielen Anforderungen im Alltag erfolgreich verdrängen können. Im Alter kommen diese Menschen zur Besinnung. Dann kommen Dinge wieder hoch, an die sie jahrelang nicht gedacht haben. Als Zweites sehen wir ein Phänomen, das wir Last Chance Syndrome nennen. Der Gedanke: Ich möchte einmal im Leben darüber sprechen, was mir Schlimmes passiert ist. Die Betroffenen möchten mit ihrer emotionalen Last nicht sterben. Und drittens: Im Alter treten vermehrt lebensbedrohliche Situationen auf. Krankheiten, Gebrechlichkeit, Hilflosigkeit. Die triggern die Ängste, in bestimmten Situationen hilflos zu sein.
ZEIT ONLINE: Können auch bei dementen Menschen Traumatisierungen reaktiviert werden?
Heuft: Auf jeden Fall kann eine beginnende Demenz dazu führen, dass die Menschen ihre Traumatisierung schlechter verdrängen können, da die Fähigkeit zur Abwehr abnimmt. Ich erinnere den Fall einer alten Dame. Sie lebte im Altersheim und kam dort gut zurecht, war sozial eingebunden und beliebt. Mit der Zeit wurde sie dement und konnte ihre Körperpflege nicht mehr selbst erledigen. Sie musste also im Liegen gewaschen werden. Plötzlich wurde sie aggressiv und trat nach den Pflegekräften. Es stellte sich heraus, dass diese Frau gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein Vergewaltigungstrauma erlitten hatte. Danach hatte sie nie wieder jemanden an sich herangelassen und immer alleine gelebt. Damit kam sie gut zurecht, bis sie die Körperpflege durch andere Menschen benötigte. Das rief in ihr die Folgen der Traumatisierung wieder hervor.
ZEIT ONLINE: Wie ging es dann weiter?
Heuft: In ihrem Demenzzustand war keine klassische Psychotherapie mehr möglich. Gemeinsam mit der Pflege haben wir überlegt, wie man das Waschen für sie respektvoller gestalten konnte. Sie wurde dann abschnittsweise gewaschen, immer ein Teil ihres Körpers blieb bedeckt und die Pflegerinnen sprachen anders mit ihr. Dadurch klappte es besser. Dieses Fallbeispiel zeigt: Es besteht auf jeden Fall das Risiko, bei dementen Personen Traumaspätfolgen zu übersehen.
ZEIT ONLINE: Wurde in der Zeit nach dem Weltkrieg denn über belastende Erfahrungen gesprochen?
Heuft: Es gab damals zwei Extreme. Entweder es wurde sich über die Erlebnisse ausgeschwiegen. Die Botschaft, mit der diese Kriegskinder aufgewachsen sind, war unter anderem: "Halt die Klappe und sei froh, dass du überlebt hast!" Sie haben auch gegenüber ihren eigenen Kindern, den sogenannten Kriegsenkeln, also der Generation aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, eisern geschwiegen.
ZEIT ONLINE: Und das andere Extrem?
Heuft: Das sind diejenigen, für die der Krieg nie wirklich aufgehört hat. Manche Menschen kennen das: Es dauert keine zehn Minuten, egal mit welchem Thema die Konversation begonnen hat, dann ist der Großvater oder der Vater wieder in Stalingrad. Oder Kriegsenkel haben sich sooft die Geschichten ihrer Eltern über Flucht und Ausbombung angehört, dass sie das Gefühl haben, sie wären selbst dabei gewesen. Die Beschreibungen sind sehr lebhaft und sehr emotional. Außerdem haben sie für ein Kind eine enorm bedrohliche Intensität. Denn die Eltern betonen in ihren Erzählungen immer wieder, dass es beinahe schiefgegangen wäre. Daraus schließen die Kinder unweigerlich für sich: Dann gäbe es mich auch nicht. Darüber entsteht eine starke Identifikation dadurch, dass die Kriegsenkel sich in die Bedrohungserfahrung einfühlen. Hier könnte man von Traumaweitergabe von einer Generation zur nächsten sprechen.
ZEIT ONLINE: Wie können denn Traumareaktivierungen behandelt werden?
Heuft: Das hängt davon ab, ob alle Kriterien für die Diagnose einer PTBS erfüllt sind, das Vollbild der Störung vorliegt und ob die Symptomatik relativ frisch ist und nicht schon die ganzen letzten Jahre bestanden hat. Dafür gibt es spezielle, auf Traumata fokussierte Psychotherapiemethoden. Wir haben auch bei alten Menschen gute Erfahrungen mit der Eye-Movement-Desensitization-and-Reprocessing-Methode gemacht.
Symptome PTBS
Typische Symptome sind ein Wiedererleben , auch Intrusion genannt, bekannt auch als Flashback . Ohne innere Distanz erwachen die Bilder dabei in ihrer vollen emotionalen Wucht erneut, in Albträumen wird die gesamte Situation wieder durchlebt. Oft gibt es auch eine erhöhte Erregung, die Personen sind schreckhaft, angespannt, haben Schlafprobleme. Manche leiden unter ungesteuerter Aggressivität. Auch das Gegenteil, extreme Abgestumpftheit , kann vorkommen. Die Betroffenen starren dann vor sich hin und sind emotional taub. Typisch ist auch Vermeidungsverhalten: Die Personen können nicht an den Ort des Geschehens zurückkehren und vermeiden alles, was sie an die Belastung erinnert.
Von einer Retraumatisierung spricht man, wenn Mensch durch ein neues, zusätzliches Trauma belastet werden. Das kann auch das alte Trauma vertiefen. Von einer Traumareaktivierung spricht man dagegen, wenn Bilder oder Geräusche oder eigentlich harmlose Erlebnisse die ursprüngliche traumatische Situation wiederbeleben.
ZEIT ONLINE: Wie funktioniert die?
Heuft: Das ist eine Methode, bei der sich der Patient auf Erinnerungen an die traumatische Situation konzentriert, die nicht ausreichend verarbeitet werden konnten. Konkret zum Beispiel auf die Erinnerung: "Die Bombe trifft unser Haus." Der dazugehörige Gedanke wäre: "Gleich sterbe ich" und dazu körperliche Empfindungen wie Herzrasen. Gleichzeitig wird auch ein positiver Gedanke formuliert, zum Beispiel: "Ich habe überlebt." Im nächsten Schritt folgt der Patient mit den Augen etwa einem Gegenstand, den der Therapeut von links nach rechts und zurückbewegt.
Die Erinnerungen können dadurch verblassen, die Patienten werden so entlastet. Der Wirkmechanismus von EMDR ist bisher nicht geklärt, es gibt jedoch Hinweise auf einen eigenständigen, neurobiologischen Wirkmechanismus. Eine weitere Methode wäre die kognitive Verhaltenstherapie. Da erfolgt eine Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis, indem dieses gezielt gedanklich wiedererlebt wird.
ZEIT ONLINE: Und wenn nur einzelne Symptome wieder auftreten? Nur Albträume oder unspezifische Schmerzen zum Beispiel?
Heuft: Dann würde ich eine normale psychotherapeutische Behandlung empfehlen. Dabei können die Betroffenen ihre Emotionen verarbeiten und lange zurückliegende schwerste Belastungen aufarbeiten. Den meisten Menschen ist die Verbindung klar: Wenn sie die Bilder aus der Ukraine im Fernsehen sehen und sie das sehr aufwühlt, dann können sie zu ihrem Selbstschutz auch weniger Nachrichten konsumieren. Sie sollten sich fragen: Was tut mir gut? Welche Situationen stressen mich? Gut für sich zu sorgen, ist eine wichtige Kompetenz.
ZEIT ONLINE: Aber ist Vermeidungsverhalten nicht problematisch?
Heuft: Nur, wenn dadurch Leid entsteht. Wenn ein Mensch durch einen Autounfall traumatisiert ist und dadurch nicht mehr Auto fährt, er aber eigentlich darauf angewiesen ist, weil er auf dem Land wohnt, dann entsteht dadurch Leid. Aber wenn ein älterer Mensch einfach weniger Kriegsnachrichten hört oder sieht, weil sie ihn aufgrund seiner früheren eigenen Erfahrungen beunruhigen, sprechen wir eher von einer sinnvollen Selbstfürsorge.