Es sind Geschichten, die kein Vater, keine Mutter gern liest: Da ist der siebenjährige Junge, der unter bleierner Müdigkeit leidet und keinen Sport mehr machen kann, die Elfjährige, die oft wegen Kopfschmerzen im Bett bleibt oder die Fünfzehnjährige, die sich in der Schule nicht mehr konzentrieren kann und beim Lernstoff nicht mehr mitkommt. Solche Beschreibungen sind derzeit im Internet zu lesen. Das Stichwort: Long Covid. Bei Eltern wecken die Berichte große Sorgen: Wird mein Kind, wenn es sich mit infiziert, womöglich langfristig unter Folgen leiden?
Noch ist sehr wenig über Long Covid bei Kindern bekannt. Man weiß, dass die Beschwerden, die auch nach einer milden oder mittelschweren Infektion auftreten, ziemlich weit reichen können: von extremer Abgeschlagenheit - sogenannter Fatigue - bis hin zu Atem- und Kreislaufproblemen, Schlafstörungen oder Schmerzen. Oftmals treten die Beschwerden erst ein paar Wochen nach der überstandenen Infektion auf. Angesichts einer drohenden Infektionswelle mit der hochansteckenden Deltavariante und einer Vielzahl von Kindern, die noch nicht geimpft sind und auch noch gar nicht geimpft werden können, aber stellt sich dringend eine Frage: Wie hoch ist das Risiko?
Long Covid
Symptome, die nach einer Corona-Infektion anhalten oder neu auftreten, werden häufig unter dem Namen Long Covid zusammengefasst. Dabei ist dieser Begriff nicht klar definiert. Gemäß den NICE-Leitlinien werden alle Beschwerden innerhalb von vier Wochen nach einer Corona-Infektion zu akutem Covid-19 gerechnet.
In einem Zeitraum von bis zu zwölf Wochen spricht man von anhaltend symptomatischem Covid-19. Und wenn Symptome während oder nach einer Corona-Infektion auftauchen, mehr als zwölf Wochen anhalten und sich nicht durch eine andere Diagnose erklären lassen, spricht man vom Post-Covid-19-Syndrom.
Wenn Menschen noch sechs Monate nach ihrer Corona-Infektion unter Fatigue leiden und zusätzlich noch andere Beschwerden hinzukommen, diagnostizieren Ärztinnen ein Chronisches Fatigue-Syndrom, auch als Myalgische Enzephalomyelitis oder kurz ME/CFS bezeichnet.
Klar ist: Immer wieder entwickeln Kinder nach einer Corona-Infektion ein sogenanntes PIMS, ein schweres Entzündungssyndrom (siehe Infobox). Was das eigentliche Long-Covid-Syndrom bei Kindern angeht, ist die Studienlage - anders als bei Erwachsenen - aber recht dürftig. Eine der wenigen großen Studien ist eine Befragung des Office for National Statistics aus Großbritannien. Für sie wurden rund 400.000 Teilnehmer befragt, ob sie Long-Covid-typische Symptome haben, darunter Menschen, die eine Infektion mit dem Coronavirus durchgemacht hatten, sowie Kontrollprobanden, die nicht infiziert waren. Da die Forscher die repräsentative Stichprobe in Altersgruppen unterteilten, geben die Daten einen Anhaltspunkt zur Lage der jüngeren Infizierten: Demnach weisen neun bis 13 Prozent der Kinder und Jugendlichen fünf Wochen nach der Infektion noch mindestens ein Symptom auf. Dazu zählten etwa Fatigue, Husten oder Kopfschmerzen. Bei der Kontrollgruppe waren es mit circa zwei Prozent signifikant weniger Personen, die von solchen Symptomen berichteten.
PIMS
PIMS ( paediatric inflammatory multisystem syndrome), auch MIS-C ( multisystem inflammatory syndrome in children) genannt, tritt mit einigen Wochen Verzögerung nach einer Covid-19-Infektion auf. Anders als Long Covid oder Post Covid sind die körperlichen Reaktionen sehr heftig und gehen auf eine Entzündungsreaktion im gesamten Körper zurück. Die Symptome beginnen häufig mit Bauchschmerzen, Durchfall und Fieber und können bis zu schweren Herz-Kreislauf-Störungen und neurologischen Ausfällen reichen.
Die betroffenen Kinder und Jugendlichen müssen zielgerichtet behandelt werden, manchmal auch auf der Intensivstation. „Die Prognosen sind aber sehr gut, in Deutschland ist bis dato noch kein Kind an PIMS verstorben", sagt Jakob Armann, Arzt in der Abteilung Pädiatrische Immunologie der Universitätsklinik Dresden, der gemeinsam mit Kollegen für die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) eine Onlinedatensammlung von stationären Covid-19-Fällen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland aufgebaut hat.
Die DGPI hat bis Mitte Juli 383 Fälle von PIMS bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland erfasst. "Das mag nach viel klingen, doch wenn man es mit der Gesamtzahl der Covid-19-Fälle bei Kindern und Jugendlichen vergleicht, gut 590.000 Fälle, kommt man auf ein Verhältnis von ungefähr 1:1.600", sagt Armann. Rechnet man die nicht unerhebliche Dunkelziffer an Infizierten ein, ist die Zahl sogar noch niedriger.
Dass aber wirklich rund zehn Prozent der Kinder Long Covid entwickeln, bezweifeln viele Experten. Darunter ist der Kinderarzt Daniel Vilser, Oberarzt am Uniklinikum Jena und Leiter der ersten Long-Covid-Ambulanz für Kinder und Jugendliche in Deutschland. "Mehr als 550.000 Kinder und Jugendliche sind bisher nachweislich mit Sars-CoV-2 infiziert. Wir rechnen damit, dass die Dunkelziffer mindestens doppelt so hoch ist. Folglich wären dann ja weit über 100.000 Kinder von Long Covid betroffen", sagt Vilser. "Wenn das so wäre, würde uns das in der Praxis noch mehr auffallen."