Pizza mit extra viel Käse, Schokolade, Brezeln mit löffelweise Frischkäse, danach einen Liter Vanilleeis. Was klingt, wie das Essen für einen ganzen Kindergeburtstag, aß Emma Graf an manchen Abenden allein. Sie stopfte das Essen in sich hinein, so lange, bis sie nicht mehr konnte, dann rannte sie zur Toilette und übergab sich. Meist brauchte sie sich dazu nicht einmal den Finger in den Hals zu stecken, so geübt war sie. An einem Abend übergab sie sich mehrfach, oft stundenlang. Danach war sie völlig ausgelaugt und voller Scham, sagt sie. Meist schleppte sie sich dann nur noch ins Bett und schlief ein.
Emma Graf, die in Wirklichkeit anders heißt und nicht erkannt werden will, ist 34 Jahre alt, seit 20 Jahren leidet sie an Bulimia nervosa, kurz Bulimie. Eine Krankheit, bei der Betroffene unkontrolliert essen, um sich im Anschluss zu erbrechen. Wie bei allen Essstörungen sind vor allem Frauen und junge Mädchen betroffen, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Von 1.000 Frauen erkranken laut der Zentrale circa 14 im Laufe ihres Lebens an Bulimie. Die Dunkelziffer, so vermuten die Expertinnen und Experten, ist höher.
Vor vier Jahren bekam Emma Graf ihre Essstörung in den Griff. Eine Psychotherapie, Meditation und Yoga halfen ihr dabei. "Ich hatte Angst, mich kaputtzumachen, wenn ich nichts an meinem Leben ändere", sagt sie. Ihr Wille und die vorgegebenen Strukturen halfen ihr dabei, die Essstörung zu überwinden. Täglich ging sie ins Büro, mittags in die Kantine. Sie ernährte sich gesund, hatte keine Essattacken mehr. Dann kam der 16. März dieses Jahres, Corona legte die Wirtschaft lahm, Graf wechselte wie viele Menschen ins Homeoffice. Erst sei sie erleichtert gewesen, erzählt sie: "Kein morgendlicher Stress mehr, weniger soziale Verpflichtungen, alles war gut." Doch zu Hause, weit weg von den Kolleginnen und Kollegen, war sie näher am Kühlschrank.
Es reicht ein einziges Mal, um rückfällig zu werden"Dass meine Essstörung wieder die Kontrolle über mich gewann, war ein schleichender Prozess", sagt sie. Irgendwann habe sie bemerkt, dass sie einseitig aß. "Weil ich mittags nicht mehr in die Kantine gehen konnte, habe ich nur noch gekochte Zucchinis, Karotten und Brokkoli gegessen, leicht gesalzen, nichts dazu", sagt Graf. Dann probierte sie Intervallfasten aus: 16 Stunden keine Nahrung, dann acht Stunden essen: "Das war der nächste Schritt in die falsche Richtung."
Graf unterscheidet seit ihrer Jugend zwischen "guten" und "bösen" Lebensmitteln. Böse sind für sie Nudeln, Kartoffeln, Süßigkeiten oder Bananen. Eigentlich alle Lebensmittel mit einem hohen Kaloriengehalt. Gut ist alles andere. Es war im April diesen Jahres, dass sie davon wieder zu viel aß. "Zu diesem Zeitpunkt waren es noch keine bösen Lebensmittel, nur gesunde, wie Zucchini, Karotten und Brokkoli", sagt sie. Danach sei sie so voll gewesen, dass sie dem Drang, sich zu übergeben, nicht habe widerstehen können. Das sei einmal passiert. Und zwei Wochen später noch einmal. Die junge Frau wusste, dass sie sich in Gefahr brachte: "Ich vergleiche meine Essanfälle immer mit einer Droge, Alkohol zum Beispiel. Da ist es ja auch so: Wenn man clean ist, reicht ein einziger Schluck Alkohol, um rückfällig zu werden."
Süchtig nach den EssanfällenUlrich Voderholzer kennt diesen Vergleich, er ist der Ärztliche Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, einem Krankenhaus, das sich unter anderem auf Patientinnen und Patienten mit Essstörungen spezialisiert hat: "Wir sehen Parallelen zwischen den Essstörungen und anderen Suchterkrankungen." Betroffene mit Bulimia nervosa seien oft "süchtig" nach Essanfällen. "Sie erleben im Rahmen des Essanfalls einen Kick, das Belohnungssystem wird im Gehirn aktiviert", sagt Voderholzer.
Deshalb wird die Krankheit auch als Ess-Brech-Sucht bezeichnet. Doch es gibt auch Unterschiede zu den klassischen Suchterkrankungen. Im Gegensatz beispielsweise zur Drogenabhängigkeit muss die Dosis laut Voderholzer bei Essstörungen nicht gesteigert werden. Auch Entzugserscheinungen treten eher nicht auf. "Die Betroffenen haben nach außen ein normales Leben, kaum jemand ahnt etwas von ihrem Leid", sagt Voderholzer. Bulimikerinnen seien in der Regel normalgewichtig - im Gegensatz zu Menschen mit anderen Essstörungen, wie der Binge-Eating-Störung, bei der die Betroffenen Essanfälle haben, ohne sich danach zu erbrechen. Oder wie bei der Magersucht, bei der die Patienten hungern oder andere Maßnahmen ergreifen, um ihr Gewicht zu reduzieren.