Mein erstes Mal in der Gemüsefabrik beginnt mit Gurken und David Guetta. Das eine werde ich Monate lang sehen, den anderen zum Glück nicht täglich hören. Doch heute an meinem ersten Arbeitstag im April dröhnt sein Song Sexy Bitch aus einem Lautsprecher durch die Lagerhalle. Selten habe ich mich weniger sexy gefühlt, verhüllt in eine Daunenjacke, meine Füße stecken in klobigen Turnschuhen, die Hände in hellblauen Plastikhandschuhen. Ich sortiere Gurken in kleine Pappschalen. Exakt 300 Gramm. Links neben mir steht eine Kiste mit Gurken, vor mir eine Waage und rechts rattert das Fließband vorbei. Vor und hinter mir am Fließband stehen meine neuen Kollegen. Vitali Radu* und Ludovika Popescu* aus und Ewa Nowak* aus Polen. In den nächsten Monaten werde ich mit ihnen lachen und seltsame Wörter ihrer Sprache lernen. Ich werde tonnenweise Gemüse sortieren, pflücken, heimlich naschen. Ich werde bis zur Erschöpfung arbeiten, über meine Privilegien nachdenken und nach meinen geplanten drei Monaten als Erntehelferin immer noch nicht kündigen.
All das weiß ich noch nicht, als ich an einem Montag im April völlig überfordert am Fließband stehe und Gurken in Schalen packe. Kleine, kurze, lange, dünne, krumme, hellgrün glänzende oder dunkelgrün geriffelte, ich wusste noch nicht einmal, wie viele verschiedene Formen eine Gurke haben kann.
Bevor ich in der Gemüsefabrik anfing, hatte ich eine ziemlich romantische Vorstellung von der Ernte: Kräftige Menschen stehen in Latzhosen und Gummistiefeln auf Feldern, die Sonne scheint, ein Vogel fliegt auf. Das wollte ich schon immer mal machen. Und mir fiel daheim die Decke auf den Kopf, meine Journalistenausbildung hatte ich im März beendet. Ich las überall in den Medien, dass wegen der Corona-Krise Erntehelferinnen fehlten, da nicht genug Saisonarbeiter nach Deutschland kommen dürfen.
Nach zwei Probestunden hatte ich den JobAlso schrieb ich allen Bauern der näheren Umgebung eine E-Mail. Zwei antworteten mir freundlich mit einer Absage. Dann bekam ich einen Anruf von einer Bäuerin, die fragte, ob ich vorbeikommen will. Meine neue Chefin ist eine große Frau mit kurzen grauen Haaren und einem Blick, der verrät, dass sie den Laden unter Kontrolle hat. Sie hat eine sehr kräftige Stimme, die es schafft sowohl die Dauerschleifenmusik als auch die ratternden Maschinen zu übertönen. Nach zwei Stunden Probearbeit hatte ich den Job. Mein neuer Arbeitsplatz liegt in Nordbayern und hat mit meiner romantischen Vorstellung nicht viel zu tun. Drei riesige Gewächshäuser, jeder Meter wird hier genutzt, eine Pflanze klebt an der nächsten. Nicht mal Erde gibt es, zumindest keine, die ich sehe. Der Boden ist mit Plastikplanen bedeckt, die Pflanzen wachsen aus weißen Säcken heraus. Dazu eine große Abpackhalle, wo Paletten mit Gemüsekisten auf der einen Seite reingefahren werden und Paletten mit abgepackten Schalen auf der anderen Seite wieder raus. Dort stehe ich eine Woche später am Fließband.
Meine Kollegen Vitali Radu, Ludovika Popescu und Ewa Nowak legen ein unglaubliches Tempo vor. Scheinbar willkürlich greifen sie drei Gurken aus der Kiste, zack rein in die Schale, zack grünes Licht, weil richtiges Gewicht, zack aufs Fließband geschoben. So schnell kann ich gar nicht schauen, geschweige denn packen. Eine Zahl ist heute besonders wichtig: Die Obergrenze von 320 Gramm. So schwer darf eine Schale mit Gurken sein, was gar nicht so einfach ist. Viele der Gurken sind zu dick, andere zu klein. Die Waage zeigt 350 Gramm und blinkt rot. Hin und wieder schiebe ich eine zu schwere Schale aufs Band, unbemerkt, wie ich zunächst denke. Doch so unbemerkt bleibt das nicht. Die Waage vermerkt jede richtige Schale, aber auch jede zu leichte und zu schwere. Also sammle ich die ganz dicken Oschis extra. Als eine Ladung besonders kümmerlicher Gurken angefahren wird, schnappe ich sie mir begeistert. Ich vereine die mickrigen mit den molligen Exemplaren zu exakt 300 Gramm. Die Waage strahlt grün, ich strahle auch, im Hintergrund läuft eine seltsame Techno-Version des Macarena-Songs. Nach sieben Stunden ruft einer der Arbeiter Stopp und ich habe 1.500 Schalen gefüllt. Erst jetzt merke ich, wie mein Rücken schmerzt vom stundenlangen Stehen, meine Oberschenkel brennen und mein Nacken ganz steif ist. Aber ich bin ganz schön zufrieden mit mir. Eine kleine Frau, die leider kein Deutsch spricht, kommt vorbei und blickt auf meine Anzeige. Sie schaut mich an und nickt anerkennend. Ich gehe zu ihrer Waage, sehe mir ihre Zahl an: 3.000 Schalen. "Wow", sage ich beeindruckt und hoffe, dass dieses Wort auch von Rumänen verstanden wird. Ich denke schon, sie lächelt stolz.
44 Kisten mit je 150 Tomaten warten auf michDie Frau heißt Mariana Popa*, wie ich später erfahre, sie wird noch oft am Fließband neben mir stehen. Sie hat dunkle Haare und sieht aus, als könnte sie sehr lustige Anekdoten erzählen. Immer wieder lacht sie und zwinkert mir nach ihren Sätzen zu. Und sie ist sehr schnell, nicht nur am Fließband. Bei der Tomatenernte, einer unserer anderen Aufgaben, schafft sie zwei Gänge in der Zeit, die ich für einen Gang brauche. Ein Gang, das sind ungefähr fünfzehn Meter, an denen sich eine Tomatenstaude an die nächste reiht. Wenn man einen Gang aberntet, füllt man circa zehn Kisten. In eine Kiste passen geschätzt 150 Tomaten, je nachdem, wie gut man schichtet. Oft bekommen wir Aufträge wie: "Sechs Paletten Tomaten, bitte." Das sind dann sechs Paletten mit 44 Kisten und je 150 Tomaten - also sehr viele. So sitzen wir stundenlang auf unseren niedrigen Wägen und stoßen uns mit den Beinen ab, um uns fortzubewegen wie auf einem Bobby Car.
Wenn wir mal zufällig mit den Wagen auf einer Höhe des Gangs sind, unterhalten wir uns kurz. Zum Beispiel fragt Mariana Popa mich: "Liebe?" und deutet mit dem Zeigefinger auf ihren Ringfinger der anderen Hand. Sie sieht nicht, ob ich verheiratet bin, wir tragen ja Handschuhe. "Nu, nu", sage ich, nein nein. "Du?", frage ich und deute auf sie. "Ja, Christoph", sagt sie und zeigt auf die Wägen, die man bis zur Gewächshausdecke fahren kann wie einen kleinen Kran. "Schimm", imitiert sie das surrende Geräusch beim Hochfahren. Und ich verstehe, dass ihr Mann wohl auch hier arbeitet. Die beiden kamen schon Ende Januar aus Rumänien hierher, erzählt sie mir. Mariana Popa bringt mir regelmäßig neue Wörter auf Rumänisch bei. Mulțumesc heißt danke. Jeden Morgen fragt sie mich, wie es mir geht. Wenn ich dann mit "Bine" antworte, auf Deutsch gut, freut sie sich wie eine stolze Mama. "Bravo", sagt sie dann und lacht. Sie fängt jeden Tag eine Stunde früher an als ich und bleibt auch abends eine Stunde länger. Ich beginne meine Schicht um halb acht, sie um halb sieben. Nachmittags gehe ich um halb fünf. Sie bleibt mindestens bis 18 Uhr.