Der Psychiater Pablo Hagemeyer hat sich in seiner Arbeit auf die narzisstische Persönlichkeitsstörung spezialisiert, er behandelt viele Menschen, die darunter leiden. Das falle ihm leicht, sagt er. Schließlich sei er selbst Narzisst.
ZEIT ONLINE: Woran erkennen Sie, dass Sie einen Narzissten oder eine Narzisstin vor sich haben?
Pablo Hagemeyer: Die Antwort als Laie wäre: Wir können das intuitiv erspüren. Irgendwas stimmt bei diesem Menschen nicht. Er wirkt beispielsweise ein bisschen zu besonders, zu außergewöhnlich. Also zu wichtig für den tatsächlichen Kontext. Narzissten sind extrem selbstbezogene Personen. Was auch geschieht, wird so hingedreht, selbst besser, klüger, wichtiger, schuldlos oder hübscher als andere zu wirken. Und wenn das objektiv nicht der Fall ist, halten sie trotzdem daran fest. Fachlich geschulte Menschen, wie zum Beispiel Psychologen, gehen im Kopf dann die klassischen Persönlichkeitsstörungen und deren Diagnosekriterien durch. Und da gibt beim Narzissmus klare Kriterien, wie zum Beispiel: arrogantes Auftreten, Verlangen nach Bewunderung, ausbeuterisches Verhalten, Verweigerung von Empathie oder Unfähigkeit zur kritischen Reflexion über sich.
ZEIT ONLINE: Wie lange brauchen Sie, um zu merken, dass einer Ihrer Patienten narzisstisch ist?
Hagemeyer: In der Regel merke ich es schnell, manchmal sogar nach nur wenigen Minuten. Schon die kleinsten Dinge sind entlarvend. Ich habe zum Beispiel ein Schild an meiner Tür zur Praxis, auf dem "Bitte nicht klopfen" steht. Für die meisten Menschen ist klar, dass sie dann nicht stören sollen. Allerdings nicht für Narzissten. Die kommen einfach rein. Sie haben kein Gespür für den persönlichen Bereich anderer Leute. Vor ein paar Tagen hatte ich einen Termin mit einem neuen Patienten, der sich schon im Vorfeld als Narzisst angekündigt hat. Und was macht der? Er kommt einfach rein. Ich meinte: "Hey, da steht 'Bitte nicht klopfen' dran." Er antwortete nur, dass er jetzt bereit sei. "Sehen Sie", sagte ich zu ihm, "genau für Sie habe ich eigentlich das Schild aufgeklebt." Da musste er dann lachen.
ZEIT ONLINE: Sie sagen von sich selbst, Sie seien ein Narzisst, aber ein netter. Was unterscheidet den netten von dem nicht so netten?
Hagemeyer: Pauschal zu sagen, der ist Narzisst und der nicht, greift zu kurz. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist ein Spektrum einer psychiatrischen Störung. Es gibt eine Abstufung der Schweregrade bis zum Psychopathischen. Ich selbst habe keine ausgeprägte Form des Narzissmus, ich verorte mich eher im subklinischen Mittelfeld. Ich neige zum Beispiel zum arroganten Auftreten, was ich als selbstbewusst wahrnehme, bin manchmal kritikunfähig und habe einen gewissen Mangel an Empathie. Ich nerve, zerstöre aber nicht. Ich würde also nicht einfach durch eine Tür gehen, an der "Bitte nicht klopfen" steht. Es sei denn, ich wäre in einer echten Notlage, zum Beispiel, wenn meine Tochter schnell einen Arzt bräuchte und einer dahinter wäre. Aber das ist der Punkt: Menschen mit ausgeprägter narzisstischer Störung befinden sich quasi immer in einer Notlage. Psychopathische Narzissten denken sogar, die Regeln der Gesellschaft gelten für sie nicht.
ZEIT ONLINE: Wie weit geht ein nicht so netter Narzisst?
Hagemeyer: Ein toxischer Narzisst geht schlicht über alle möglichen Grenzen, die eine kulturimmanente Moral so aufgestellt hat. Nichts ist ihm heilig. Er zerstört. Mit Worten, mit einem abfälligen Tonfall in der Stimme, mit unablässigen, herablassenden Kommentaren und mit Taten. Er ist ein Emotionsvampir, saugt die Emotionen des anderen auf. Und macht sich damit größer als sein Gegenüber. Ist der ahnungslose Interaktionspartner gefügig gemacht, kommt er in die Sammlung zu den anderen Opfern. So baut sich ein toxischer, narzisstischer Mensch seine Welt und manchmal ist er damit auch erfolgreich.
"Der Narzisst kann zu einem gewissen Grad steuern, was er fühlt, aber er bezieht es gleich auf sich." Pablo Hagemeyer, Psychiater
ZEIT ONLINE: Sie sagen von sich, dass Sie einen Mangel an Empathie haben. Dennoch versuchen Sie als Therapeut Menschen zu helfen, denen es psychisch nicht gut geht. Klingt nach einem Widerspruch.
Hagemeyer: Ich kann mich durchaus in Menschen einfühlen. Aber, und das ist der Unterschied zu anderen, ich kann das Mitgefühl auch ausknipsen. Ich kann sagen: "Das interessiert mich jetzt nicht." Die Psychologie unterscheidet hier die emotionale und die kognitive Empathie. Die letztere ist eine Empathie, die situationsbezogen, wenn nützlich, eingeschaltet wird. Sie ist schon echt, aber hallt kaum nach. Sie ist mehr gedacht als tief gefühlt. Die haben Narzissten. Ein Beispiel: Ein Film zeigt, wie sich jemand mit dem Messer in den Finger schneidet. Die meisten Menschen erschrecken und fühlen intuitiv den Schmerz mit. Der Narzisst kann zu einem gewissen Grad steuern, was er fühlt, aber er bezieht es gleich auf sich. Er leidet dann durchaus mit, allerdings nur, weil er sich selbst in der Person sieht, die sich geschnitten hat. Er tut sich dann quasi selbst leid, wenn er darüber nachdenkt, wie es sich anfühlen würde. Sieht er in dem anderen nur einen Fremden und ist er nicht bereit, sich einzufühlen, denkt er womöglich: "Ganz schön blöd, diese Person, sie kann nicht mal richtig Gemüse schneiden." Er lacht darüber. So wie man über jemanden spontan lacht, der stolpert. Das ist höchst unempathisch. Die bewusste Entscheidung zur oder gegen Empathie ist typisch narzisstisch. Empathische Menschen sind es einfach. Sie würden sich schämen, wenn jemand ausgelacht wird.
ZEIT ONLINE: Wann haben Sie zum ersten Mal bemerkt, dass Sie ein Narzisst sein könnten?
Hagemeyer: Diese Erkenntnis kam eher schleichend. Ich habe ja beruflich viel mit Narzissten zu tun. Dennoch habe ich diese Störung lange nicht mit mir in Verbindung gebracht, bis ich selbst mehr und mehr Merkmale entdeckt habe, die darauf hinweisen. Und bis mir das jemand gesagt hat: Du bist ein Narzisst, aber ein netter. Narzissten übertragen gerne die eigenen negativen Eigenschaften auf andere. Projektion nennt man das. Wenn sie in ihrem Gegenüber etwas Negatives sehen, ein Verhalten, das sie vielleicht selber haben, fangen sie an, es anzugreifen und die Person dafür extrem abwertend zu behandeln. Ich habe mich beispielsweise oft über arrogante Menschen geärgert. In dem Moment habe ich mich aber selbst überheblich verhalten. Das wurde mir irgendwann bewusst.