Ein Ton wie das hohe, langgezogene Piepen des Testbilds beim Fernsehen. So, sagt Jens Greiner*, höre sich sein an. Er begleitet ihn jeden Tag, der Ton ist da, wenn Greiner morgens aufsteht und bleibt, bis er abends einschläft.
"Ich weiß noch genau, wann ich ihn zum ersten Mal gehört habe", sagt der 51-Jährige. Es war im Frühjahr 2004, Greiner war allein zu Hause, stieg gerade aus der Dusche. "Da sind mir die Ohren zugefallen, es war, als wären sie plötzlich mit Watte verstopft." Und dann sei da dieser hohe Ton gewesen. Zunächst dachte er, er hätte noch Wasser in den Ohren, klopfte mit der Hand gegen den Kopf, bekam Panik. Er schob es auf seine Probleme mit den Stirnhöhlen, dachte, er hätte nur Druck auf den Ohren, ging zum HNO-Arzt.
Dieser stellte einen Hörverlust auf der Frequenz zwischen vier und sechs Kilohertz fest, dazu einen Tinnitus. Der Arzt verschrieb Cortison und durchblutungsfördernde Medikamente. "Gehen Sie doch zwei Wochen in die Berge, als Auszeit", riet der Mediziner. Er solle lernen abzuschalten, sich zu entspannen, also ging er zur Psychotherapie.
Er lernte, mit seinem Tinnitus zu leben, machte eine längere Auszeit in Asien, kam zurück, wechselte den Job, bekam eine Tochter. Der Ton blieb, doch er war auszuhalten. 16 Jahre lang, bis zum Frühjahr 2020, als die Corona-Pandemie begann.
So viele Menschen leiden an TinnitusTinnitus, auch Ohrensausen oder -klingeln, ist der Fachausdruck für Piepen, Summen oder Rauschen im Ohr. Im Jahr 2018 wurden in 14 Ländern der EU etwas mehr als 11.000 Menschen nach Ohrgeräuschen gefragt. Die repräsentative Umfrage ergab: Die Prävalenz, an einem Tinnitus zu erkranken, liegt bei knapp 15 Prozent. Das entspricht 75 Millionen Europäerinnen und Europäern. Jedes Jahr kommen allein in Deutschland knapp 300.000 Menschen hinzu. Wobei die meisten Menschen mit ihrem Ohrgeräusch gut zurechtkommen. Laut der Studie leidet nur etwa ein Prozent der Betroffenen mit Tinnitus sehr schwer unter den Symptomen ( Biswas et al., 2020).
Newsletter
Jeden Donnerstag liefern wir grüne Nachrichten, Lesestücke und Nachhaltigkeitstipps - für Menschen, die nach Lösungen suchen. Hier können Sie ihn abonnieren.
Mit Ihrer Registrierung nehmen Sie die Datenschutzbestimmungen zur Kenntnis.
Prüfen Sie Ihr Postfach und bestätigen Sie das Newsletter-Abonnement.
"Ein Tinnitus ist sehr komplex", sagt der Diplompsychologe Winfried Schlee vom Tinnituszentrum der Universität Regensburg. Am häufigsten sei der Tinnitus die Folge eines Hörverlustes. "Das Gehirn versucht, irgendwie den fehlenden Geräusch-Input zu kompensieren", sagt Schlee.
Dem Gehirn fehlten bestimmte Anteile des Geräuschpegels, in Greiners Fall waren es die hohen Töne. Sein Gehirn, so die These, gleicht die fehlenden Geräusche durch das hohe Dauerpiepen in Form seines Tinnitus aus.
"Aber nicht jeder, der plötzlich schlechter hört, bekommt einen Tinnitus. Und nicht jeder, der einen Tinnitus hat, hört auch schlecht", so Schlee.
Manchmal sei die Ursache für ein Ohrgeräusch zum Beispiel einfach eine Nackenverspannung. "Diese körperlichen Faktoren wie Hörverluste, verstopfte Ohren oder eben Nackenverspannungen werden von emotionalen Komponenten wie Stress, Depressionen und Angstzuständen verstärkt", erklärt Schlee. Er forscht an der Universität Regensburg schon lange zum Thema Tinnitus. Über die vergangenen Jahrzehnte sei die Zahl der Betroffenen stetig gewachsen. "Auch wenn es wenige aktuelle Zahlen gibt, Anzeichen zu einer Trendumkehr gibt es auf jeden Fall keine", sagt Schlee. ( Ear Hear: Nondahl et al., 2012).
Nun stellte er sich die Frage, wie die Corona-Pandemie die Schwere der Tinnitussymptomatik beeinflusst.
*Der Name wurde geändert, der richtige ist der Redaktion bekannt.