Philipp hat die Glasknochenkrankheit, verursacht von einem seltenen Gen-Defekt. Nach der Geburt gaben ihm die Ärzte kaum Chancen, die ersten zwei Jahre zu überleben. Jetzt ist er drei. Die Geschichte eines täglichen Kampfes. Von Hanna Spanhel
Stuttgart - Es ist ruhig in der Wohnung im Stuttgarter Osten, um die Mittagszeit ist Stefanie Palm meist allein. Nur die Gummistiefel im Flur, das Piratenzelt im Wohnzimmer und die Familienfotos an den Wänden zeugen von dem Trubel, der wohl sonst hier herrscht. Stefanie Palm, 43, stützt ihren Kopf auf der Sofalehne ab. Die Geschichte von Philipp, sagt sie, beginnt eigentlich lange vor seiner Geburt. Sie beginnt vor etwa sechs Jahren, nach der Geburt von Moritz, ihrem ersten Kind.Zum Original
Stefanie Palm - blaue Jeans, blauer Pulli, blaue, wache Augen unter dem blonden Pony - sitzt im Wohnzimmer und erzählt: von dem Geburtstrauma, das sie damals erlitt, und dem tiefen Loch, in das sie danach stürzte. Davon, wie sie sich nach ihrer ersten Geburt, nach der postpartalen Depression, wieder in den Alltag zurückkämpfte. Wie sie und ihr Mann sich irgendwann dazu entschieden, ein zweites Kind zu bekommen, ganz bewusst, weil sie sich stark genug dazu fühlten, weil sie alles noch einmal normal erleben wollten, ohne Trauma. Wie dann, in der 30. Schwangerschaftswoche, alles kippte, von einem Tag auf den anderen, wie sich ihr Leben zum zweiten Mal veränderte. Durch diese eine Diagnose.
Das Baby im Bauch hatte Frakturen am rechten Oberschenkel und an den Rippen, stellten die Ärzte damals fest. Auf den Röntgenbildern wirkten die Knochen beinahe durchsichtig - das war ungewöhnlich. Ein paar Tage später war klar, dass das Kind einen Gen-Defekt hat, Glasknochen heißt das umgangssprachlich, Osteogenesis imperfecta im Fachbegriff. Jene Krankheit, die der bekannte Jazzpianist Michel Petrucciani hatte, wusste Stefanie Palm gleich. „Das will ich nicht für mein Kind, das will ich nicht für unser Leben", ging ihr durch den Kopf. „Der Gedanke, dieses Kind nie über eine Wiese rennen zu sehen, zerschneidet einem das Herz", sagt sie heute.
„Unser Junge wird ziemlich sicher kleinwüchsig sein und im Rollstuhl sitzen"
Ein paar Tage lang bewegte sich das Kind in ihrem Bauch scheinbar nicht mehr, fast so, als könne es die Verzweiflung seiner Eltern spüren. Immerhin, das Kind sei lebensfähig, sagte der Pränataldiagnostiker, das hätte ja auch anders sein können. An diese Perspektive versuchten sich Stefanie Palm und ihr Mann Claudius Kienzle zu halten. Sie begannen, sich mit der Krankheit zu befassen, suchten über einen Verein Kontakt zu betroffenen Familien und versuchten weiterzumachen mit ihrem Alltag. „Unser Junge wird ziemlich sicher kleinwüchsig sein und vermutlich im Rollstuhl sitzen", schrieben sie an Bekannte. „Ihr habt sicherlich viele Fragen. Die haben wir auch. Im Moment gibt jedoch weder Antworten für uns und auch kaum tröstende Worte." Es auszuhalten, dass es Situationen gibt, in denen es keinen Rat und Trost gibt, sei eine große Kunst, sagt Stefanie Palm.
Die Geschichte von Philipp ist auch eine Geschichte von Ängsten, Sorgen, Fragen. Immer wieder Fragen. Aus allen Richtungen prasselten sie in den Wochen nach der Diagnose auf sie ein, sagt Stefanie Palm. Schafft er es bis zur Geburt? Wo würden wir ihn beerdigen, wenn nicht? Und wenn er überlebt: Wie soll man Philipp erklären, warum er nicht Fußball spielen wird? Wie wird das, nicht mehr im alten Job arbeiten zu können, weil ein schwerbehindertes Kind zu betreuen ist?
Dann war Philipp da, drei Kilogramm schwer, 47 Zentimeter lang. Das einzige Mal, dass er schwerer und größer war als sein Bruder, sagt seine Mutter, aber sein Kopf war nach der Geburt so weich wie eine überreife Zwetschge, seine Knochen waren so zerbrechlich, dass man ihn nur auf einer Matte umhertragen und bewegen konnte. Noch im Krankenhaus haben sie eine Willkommensfeier für ihn gemacht, auch, weil ja niemand wusste, ob er die ersten Wochen überleben würde. „Philipp hat seine Segel ausgerichtet", schrieben die Eltern in einer E-Mail aus dem Krankenhaus an Freunde und Familie. „Eine frische Fraktur wird mit Schmerzmittel behandelt." Ein paar Tage später noch eine Mail, diesmal vom Vater. „Raue See", heißt es im Betreff, „Philipp geht's ganz gut. Steffi nicht." Da war sie bereits wieder in der Klinik, für drei Wochen. Die Depression war zurückgekommen.
Die Frakturen haben sie irgendwann nicht mehr gezählt, so viele waren es
Es klingelt an der Haustüre, die Kinderkrankenschwester bringt Philipp von der Kita zurück, immer um kurz vor eins, fünfmal die Woche. Philipp hustet, das hat er seit dem Wochenende, sagt seine Mutter, da war die Familie für ein paar Tage in den Bergen. Stefanie Palm hebt ihren Sohn aus dem Kinderwagen, trägt ihn ins Schlafzimmer, wo auch sein Kinderbett steht, direkt neben dem der Eltern. „Mama", sagt Philipp. Sie legt sich zu ihm, bis er einschläft.
Die Ärzte hatten Philipp direkt nach der Geburt eine Chance von 20 Prozent gegeben, die ersten zwei Jahre zu überleben. Man konnte sagen, das Philipp sehr schwer betroffen ist. Genaues wusste aber niemand, weiß auch heute niemand, schließlich sind nur etwa 5000 bis 6000 Menschen in Deutschland von der Glasknochenkrankheit betroffen. Studien gibt es so gut wie keine, und jeder Fall ist anders. Das macht es schwer, Prognosen über den Verlauf zu stellen.
„Ihn durch die ersten eineinhalb Jahre zu bringen war ein wahnsinniger Kraftakt", sagt Stefanie Palm. In den ersten Wochen wurde das Schlafzimmer zu einer Art Intensivstation - Monitor, Sauerstoff, Medikamente. Der Körper des Jungen war so zerbrechlich, dass die Frakturen nur mit Morphin betäubt wurden, nicht gegipst. „Am Anfang macht es einfach klack, klack, klack", sagt Stefanie Palm. 16 Lungenentzündungen hatte Philipp, weil seine Lunge sich durch die Rippenbrüche nie voll entfalten konnte. Die Frakturen haben sie irgendwann nicht mehr gezählt, so viele waren es. „Jetzt ist Philipp fast drei Jahre alt und immer noch da. Meine tägliche Wundertüte." Die Geschichte von Philipp ist eben auch die eines Kämpfers.
Philipp ist jetzt wach, er ruft aus dem Schlafzimmer, überhaupt ruft er gerade ziemlich viel nach ihr, sagt Stefanie Palm und trägt ihn vom Bett ins Esszimmer, setzt ihn in den Kinderstuhl und schnallt ihn mit einem Gurt fest, so dass er sitzen kann. Philipp hat einen wachen Blick, den gleichen, den er schon auf den allerersten Babyfotos hat. Vielleicht, weil seine Augen unter dem strohblonden Schopf so groß und dunkelblau sind, vielleicht auch, weil er genau durchschaut, was um ihn herum passiert, „auch wenn manche ihn wegen der körperlichen Einschränkungen für blöd halten - oder weil er noch nicht so viel spricht wie andere Dreijährige", sagt seine Mutter.
Seit fast einem halben Jahr besucht Philipp die Kita auf der Stuttgarter Gänsheide, zwar noch ohne Integrationskraft, wie seine Mutter sich das wünscht, aber in Begleitung einer Kinderkrankenschwester. Die holt morgens Philipp und Moritz ab, mittags bringt sie Philipp zurück. Nur mittwochs bleibt die Betreuerin länger, da ist „Moritz-Mama-Nachmittag“, wie Stefanie Palm das nennt. Dann geht sie mit Moritz zum Schlagzeugunterricht, Trommeln ist sein Talent. „Viele Geschwister von Kindern mit einer Behinderung gehen unter“, sagt sie, „aber Moritz macht das super.“ Auf den Fotos, die in der Wohnung hängen, wirken die beiden sehr vertraut: Philipp im Kinderrolli, Moritz mit Polizeihelm und Schutzschild, Moritz und Philipp mit dem gleichen, schelmischen Grinsen, dem neugierigen Blick, den großen Ohren, die unter den hellblonden Strähnen hervorstehen. „Meine Lausbuben“, sagt Stefanie Palm.
Philipp hat den Teller mit Keksen aufgegessen, den seine Mutter vor ihn auf den Esstisch gestellt hat, und schüttelt die Krümel von den Händen. In einer halben Stunde beginnt die Physiotherapie. Stefanie Palm steht auf, räumt das Geschirr vom Tisch, packt ihre Tasche, zieht Philipp die Kinderjacke an, setzt ihm eine Mütze auf und trägt ihn zum Auto. Sie macht das schnell, aber ruhig, zärtlich, und ohne auch nur einen Moment gestresst zu wirken. So, als fiele ihr nichts leichter auf der Welt, dabei muss es unglaublich anstrengend sein, wenn jede Minute so durchgetaktet ist.
Auf ihren Handys haben Stefanie Palm und ihr Mann sich Kalender eingerichtet, damit die Terminkoordination klappt. „Aber es kann jederzeit alles kippen.“ Zum Beispiel wenn Philipp plötzlich krank wird und sie alles stehen und liegen lassen muss, stark sein, egal, wie es ihr selbst gerade geht. „Es gibt bestimmt einmal am Tag eine Situation, in der ich einfach nur heulen könnte, weil ich mich so überfordert fühle.“ Dann wünscht sie sich für einen Moment, dass ihr Leben einfacher wäre, und schafft es doch irgendwie, die Ärmel wieder hochzukrempeln, weiterzumachen, für die Familie. „Kämpferin“ sagt ihr Mann über sie.
Die Pharmaindustrie gibt kaum Geld für Forschung, weil zu wenige Leute betroffen sind
Nicht nur das Leben mit einem schwerbehinderten Kind sei eine Herausforderung in einer Gesellschaft, die in vielen Bereichen noch zu wenig auf Inklusion eingestellt ist, sagt Stefanie Palm, sondern auch der Kampf gegen ein System, das für seltene Krankheiten keine Lobby hat, kaum Forschungsgelder, keine Fürsprecher vonseiten der Pharma-Industrie.
Es gibt Ansätze, Medikamente, die für Osteoporose im Alter zugelassen sind, auch für Patienten mit Glasknochen zu nutzen. „Vielversprechend“ nennen Mediziner wie der Kölner Jörg Oliver Semler solche Ansätze. Doch oft sind die wirksamen Medikamente formell für Kinder gar nicht zugelassen, die Krankenkassen übernehmen die teuren Behandlungen nicht und politisch tut sich kaum etwas, weil einfach zu wenige Leute betroffen sind. „Mein Traum ist, dass mein Kind ein eigens für diese Krankheit entwickeltes Medikament bekommt“, sagt Stefanie Palm. Deshalb engagiert sie sich in den wenigen freien Stunden, die ihr tagsüber bleiben, für Öffentlichkeitsarbeit, für Spenden für ihren Selbsthilfeverein, wie sie sagt, den Landesverband der Gesellschaft für Osteogenesis imperfecta.
Immerhin, bei Philipp zeigen die Behandlungen Wirkung, die Knochen sind inzwischen deutlich stabiler, vor allem durch die sogenannte Bisphosphonattherapie, für die Philipp mit seinem Vater alle paar Monate für mehrere Tage im Krankenhaus ist. „Das macht Mut“, sagt Stefanie, „aber es liegt noch ein ganzes Gebirge vor uns.“ Von Juli an werden Philipp jedes halbe Jahr operativ Nägel in die langen Knochen von Armen und Beinen eingesetzt, zur Stabilisierung – wenn alles nach Plan läuft. Ganz schützen können wird man Philipps Knochen nicht, das wäre auch eine viel größere Einschränkung als ab und an eine Fraktur.
"Man lernt das Leben mehr zu schätzen", sagt Stefanie Palm
Ein paar Leute gucken, als Stefanie Palm den kleinen Kinderrollstuhl mit den bunten Raketen auf den Radkappen durch die Gänge des Olgahospitals rangiert, aber von mitleidigen Blicken hat sie genug. „Die Leute vergessen, dass die Kinder das mitkriegen.“ Sie wirkt müde auf einmal, und als ob Philipp das spüren würde, hilft er mit seinen kleinen Händen, den Rollstuhl anzuschieben. Zweimal die Woche gehen sie zur Physiotherapie ins Olgäle – eines der wenigen Behandlungszentren für die seltene Glasknochenkrankheit in Europa.
Wie hoch seine Lebenserwartung ist, weiß Stefanie Palm nicht, will sie auch gar nicht wissen. Petrucciani, der Jazzpianist, starb mit 36 Jahren an einer Lungenentzündung, und vielleicht wird auch Philipp keine 80 werden, aber Stefanie Palm versteht nicht, warum das für Außenstehende so wichtig ist. „Man lernt das Leben mehr zu schätzen, lernt, was wirklich wichtig ist.“
Philipp liegt nun auf einer großen Liege im Sportraum des Olgäle und drückt einen Knopf an der Platte, die am Fußende verankert ist. Die Platte beginnt zu vibrieren, Philipp lacht, weil das kitzelt, klatscht in die Hände und stemmt sich mit den Beinen dagegen, langsam, immer ein Stückchen höher, bis die Kraft nachlässt. „Astronautentraining“, nennt die Physiotherapeutin das, weil auch Raumfahrer so ihre Muskeln trainieren. „Wuhwuhwuh“ macht das Gerät, „wuhwuhwuh“ macht auch Philipp, und seine Mutter klatscht jetzt. Michel aus Lönneberga nennt sie ihn manchmal, er sei eben ein Schlawiner. „Dass er sich einmal aus eigener Kraft so weit nach oben drücken kann, hätte vor einer Weile niemand für möglich gehalten“, sagt Stefanie Palm. „Vielleicht wird er irgendwann stehen.“