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Erdbeobachtung: Satellit „Cristal" soll die Eisschmelze an den Polen überwachen - WELT

Die goldene Hitze-Isolierung soll Satellit "Cristal" gegen die Sonne schützen

Mit einem neuen Satellit will die Europäische Raumfahrbehörde Esa beobachten, wieviel von dem Eis am Nord- und Südpol ins Meer gleitet - und wie schnell dort der Klimawandel voranschreitet.

Wenn Satelliten die Erde im rechten Winkel umrunden - also um 90 Grad gekippt, verglichen mit den Umlaufbahnen anderer Satelliten - dann muss das einen besonderen Grund haben. In diesem Fall heißt das: Sie fliegen abwechselnd über beide Pole. „Aufgrund des Klimawandels brechen oftmals größere Stücke vom Festlandeis ab", erklärt der Luft- und Raumfahrtingenieur Kristof Gantois von Europas Weltraumagentur Esa. Diese Eismassen würden dann in das Meerwasser rund um die Pole gelangen. „Wir wollen wissen, wie dick diese Eisberge sind, die in unseren Ozeanen schwimmen."

Die Esa hat sich zum Ziel gesetzt, das Tempo des Klimawandels zu quantifizieren, indem sie einen Satelliten in der Erdumlaufbahn die Dicke der Eismassen bestimmt lässt - und auch, wie viel Nachschub von oben auf sie herunterrieselt.

„Das ist wichtig als Grundlage für weitere Klimauntersuchungen, um zu wissen, wie viel Schnee existiert und wie viel Eis derzeit von den Polkappen abschmilzt", ergänzt der Geophysiker Josef Aschbacher, der vor seiner Berufung zum Esa-Generaldirektor im Frühjahr als Direktor für Erdbeobachtungsprogramme das Projekt „Cristal" mit ins Leben gerufen hat. „Solche Erkenntnisse sind wichtig, um unsere Klimamodelle zu eichen, sie mit besseren Daten zu versehen und um sicher zu sein, dass die Klimavorhersagen kontinuierlich besser werden."

Schmilzt ein Eisberg irgendwo im Nordpolarmeer, steigt deswegen nicht der Meeresspiegel. Er schwamm ja vorher bereits im Ozean. Dabei hatte er so viel Wasser verdrängt, wie durch sein Schmelzen nun hinzukommt.

Anders sieht das aus bei Eismassen, die sich an Land befanden, irgendwo auf dem antarktischen Kontinent oder in Grönland. Gelangen sie ins Wasser - ob in fester Form, also als Eis, oder durch Abschmelzen - steigt der Meeresspiegel.

All diese Prozesse soll der neue Esa-Satellit „Cristal" beobachten. Sein Name steht für Copernicus PolaR Ice and Snow Topography ALtimeter. Diese Abkürzung beschreibt bereits das Verfahren: Der Satellit schickt Radarsignale hinunter auf die Erde. Diese Impulse werden an der Oberfläche - etwa von einer Eisfläche - gestreut und zurückgeworfen zum Satelliten. Durch interferometrische Messungen, also durch den Abgleich sich überlagernder Wellen, können Wissenschaftler schließlich die Eisdicke bestimmen.

„Radar ist von Vorteil, weil gerade die Pole oft wolkenbedeckt sind", gibt Josef Aschbacher zu bedenken. Mit optischen Sensoren wären Aufnahmen stets nur sehr eingeschränkt möglich. „Abgesehen davon kann man mit optischen Sensoren nur die Eisfläche bestimmen, aber nicht die Eisdicke", so der Esa-Chef.

„Cristal", der Alleskönner: Schneemassen, Eisflächen, Eisdicke - all das soll das fliegende Auge leisten können; bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit.

„Es ist ein relativ komplexes Ding", findet Esa-Raumfahrtingenieur Gantois. Größe und Gewicht entsprechen in etwa einem kleinen Auto. Für die Stromversorgung sind große Solarzellen auf dem Satelliten angebracht. Diese Sonnensegel, oben auf „Cristal", verleihen ihm sein imposantes Äußeres. Hinzu kommt: Er tritt ganz in Gold auf. Verantwortlich dafür ist die Hitzeschutzisolierung, die den Späher im All vor der Sonne schützt.

„Cristal" wird 14 Mal am Tag die Erde umkreisen. Oder, anders gesagt: Die Erde wird sich unter dem Satelliten wegdrehen, während sein Radar 14 Mal den Nord- und 14 Mal den Südpol abtastet. „Mit diesem Radar werden wir sehr präzise die Dicke schwimmender Eisbrocken messen können, aber auch die Höhe des Festlandeises", glaubt Gantois. „Und außerdem lässt sich so auch bestimmen, wie viel Schnee auf dem Eis liegt." Die Mächtigkeit der Schneedecke habe nämlich einen Einfluss darauf, ob und wie schnell das darunterliegende Eis schmilzt - oder eben nicht.

Eben das ist neu und eine Besonderheit von „Cristal": Bisherige Erdbeobachtungssatelliten waren nicht in der Lage, Schnee von Eis zu unterscheiden. „Cristal" schickt seine Radarimpulse auf verschiedenen Frequenzen, die unterschiedlich tief eindringen in die Schneedecke - aber nicht in die Eisdecke. Dieses Multifrequenzradar kann dann durch Differenzmessungen die Schneedicke bestimmen.

Und damit nicht genug. „Cristal" wird selbst Windstärken aus dem All messen können. Denn je nach Wind ist die Ozeanoberfläche mehr oder weniger aufgewühlt. Die Wellen bestimmen die Zeit, die die Radarstrahlen auf dem Weg zurück zum Satelliten in der Umlaufbahn benötigen. „Aus der Laufzeit der Signale können wir also auf den Wellengang schließen", erklärt Kristof Gantois.

„Cristal" könnte mit seinen Radaraugen unseren Blick auf die Pole verändern und kristallklar machen, wie sich der Klimawandel in den eisigsten Gebieten der Welt auswirkt. Derzeit ist der Satellit noch in der Entwicklung. Starten soll er 2027.

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