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Erdrotation: Warum die Erde sich nun schneller dreht - WELT

Wissenschaft Erdrotation

Warum dreht sich die Erde immer schneller?

Hilfe, die Erde dreht sich schneller. So schnell wie nie, seit es Aufzeichnungen gibt. Unsere Tage werden also kürzer, obwohl Geodäten das Gegenteil erwartet hatten. Für Erklärungen schauen die Forscher ins Innere des Planeten.

Je weiter 2020 zurückliegt, umso leichter fällt es, Bilanz zu ziehen und das Jahr mit anderen Jahren zu vergleichen. Dabei ist Wissenschaftlern nun aufgefallen: Die abgelaufenen zwölf Monate sind so schnell vergangen wie sonst keine seit Beginn der Aufzeichnungen. Der Grund für dieses beschleunigte Jahr ist unser Planet selbst: Die Erde nämlich hat sich 2020 so schnell gedreht wie nie zuvor.

In Zahlen ausgedrückt heißt das: Der 19. Juli 2020 war der kürzeste je gemessene Tag. Dieser Sommertag ging 1,46 Millisekunden früher zu Ende als ein durchschnittlicher Tag. Und das bedeutet: Die Erde hat sich in diesen 24 Stunden 1,46 Millisekunden schneller gedreht, als sie es sonst tut.

„Wir haben seit rund 70 Jahren hochpräzise Aufzeichnungen über die Rotation der Erde", betont Florian Seitz, Geophysiker und Präsident der Kommission für die Rotation der Erde der Internationalen Astronomischen Union. „Somit verfügen wir über langfristige Angaben, die uns verraten, wie sich die Länge eines Tages mit der Zeit verändert."

Seit den 60er-Jahren beobachten Geodäten, welche Kapriolen die Erdachse schlägt. Dabei gab es bisher einen eindeutigen Trend: Eigentlich sollte sich der Planet immer langsamer drehen, die Tage also immer länger werden.

Wie bei einem Eiskunstläufer, der während der Pirouette die Arme an den Körper zieht, beschleunigt sich die Rotation der Erde, wenn die Massen näher an die Achse rücken. Umgekehrt verlangsamt sie sich, wenn die Massen von der Achse entfernt werden. Die Umverteilung der Wassermassen aus den Eisschilden und den Gletscherregionen in den Ozean entspricht einem Ausbreiten der Arme des Eiskunstläufers: Die Masse des Wassers entfernt sich von der Achse. Dadurch wird die Rotation verlangsamt.

Und da der Klimawandel sich weiter auswirkt, sollte die Erde sich eigentlich weiter langsamer drehen. „Es überrascht also, dass in den vergangenen fünf, sechs Jahren die Erdrotation kontinuierlich zugenommen hat, die Erde sich also schneller dreht." Zu diesem Schluss kommt auch Mathis Bloßfeld vom Deutschen Geodätischen Forschungsinstitut der Technischen Universität München.

Gleich 28 Tage unterboten im vergangenen Jahr die kürzeste Tageslänge, die Geodäten bis dahin je gemessen hatten. Den bisherigen Rekord hielt der 5. Juli 2005. Und nun gleich 28 neue Rekorde in nur zwölf Monaten.

Was ist passiert?

Die Geodäten sind sich sicher: Es ist kein Messfehler, der ihnen eine beschleunigte Erdrotation vorgaukelt. Auf der Suche nach Gründen tappen die Wissenschaftler noch im Dunkeln. Einflüsse von außerhalb, aus dem All, scheiden aus. Bleiben Veränderungen im inneren Aufbau unseres Planeten. „Man geht davon aus, dass ein Großteil dieser langfristigen Änderungen durch Kopplungsprozesse zwischen dem flüssigen Erdkern und dem Erdmantel verursacht werden", erklärt Florian Seitz.

Die da koppeln, das sind geschmolzenes Eisen sowie flüssiges Nickel im Kern und Gestein aus dem Erdmantel. Das alles reibt sich aneinander und beeinflusst dadurch den Drehimpuls des Planeten. „Wie diese Kopplungsmechanismen zwischen Kern und Mantel allerdings genau ablaufen und wie sie demnach die Erdrotation beeinflussen, ist aber nach wie vor nur sehr eingeschränkt bekannt", muss der Geodät zugeben.

Sollte sich die Drehung der Erde auch 2021 beschleunigen, könnten die Zeitmesser in vielleicht fünf Jahren vor einem Problem stehen. Spätestens dann würden Erdrotation und Atomuhren womöglich nicht mehr zusammenpassen. Unter anderem mit dem Navigieren würde es schwierig werden. Denn das GPS ist auf millisekundengenaue Daten angewiesen, um die Position des Empfängers auf der Erde zu berechnen. Ansonsten würde er woanders verortet werden.

Erstmals in der Geschichte der Menschheit müsste also vielleicht bald eine Schaltsekunde nicht - wie schon 27-mal geschehen - eingefügt, sondern abgezogen werden. „Während der vergangenen Dekaden war die Länge eines Tages meistens länger als 24 Stunden", vergleicht Geodät Florian Seitz. Daher seien alle bisherigen Schaltsekunden positiv gewesen. „Aber natürlich kann es auch negative Schaltsekunden geben, wenn die Tage tatsächlich längerfristig kürzer als 24 Stunden sein sollten."

Und so könnte es in ein paar Jahren erstmals eine Zeit geben, die es nicht gibt; eine ausgefallene Sekunde, die ins Nichts führt.

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