Erst mit ihrem achten Buch kam der internationale Durchbruch: Nachdem Bernardine Evaristo 2019 für ihr Werk „Mädchen, Frau etc." (Klett-Cotta) mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, stand die heute 62jährige plötzlich im Rampenlicht. Barack Obama empfahl den Roman über zwölf schwarze Frauen in der Liste seiner Lieblingsbücher, die Vogue zählte Evaristo zu den einflussreichsten Frauen Großbritanniens 2020, und zahlreiche weitere Preise für ihr Werk folgten. Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Sie veröffentlicht Essays, Gedichte, Kurzgeschichten, Radio-Dokumentationen und Theaterstücke. „Mädchen, Frau etc." ist soeben in deutscher Übersetzung von Tanja Handels erschienen.
Interview: Günter Keil
In Ihrem neuen Roman "Mädchen, Frau etc." porträtieren Sie zwölf schwarze britische Frauen, deren Lebenswege sich teilweise kreuzen. Warum haben Sie sich für so viele Protagonistinnen entschieden?Um herauszufinden, wer wir schwarze Frauen in dieser Gesellschaft sind, wo wir stehen und wie vielfältig unsere Leben aussehen, wollte ich so viele Figuren wie möglich im Buch haben: Diversität und Quantität. Ursprünglich hatte ich sogar die Idee, über tausend Frauen zu schreiben, doch das war natürlich verrückt. Dann dachte ich über hundert nach, aber - ich gebe es zu - das war auch noch ziemlich verrückt. Letztlich sind es zwölf Frauen und ein binärer Charakter geworden; sie sind zwischen 18 und 93 Jahre alt und stehen nun tatsächlich für alle Arten von Unterschieden und Möglichkeiten, die wir heutzutage haben.
Ein Dutzend ist noch immer eine ganze Menge - haben Sie beim Schreiben nie den Überblick verloren?Zunächst nicht, denn mein Schreibprozess wird immer von meinen Figuren angetrieben, das liegt mir. Beim Überarbeiten des Manuskripts wurde es allerdings doch noch schwierig: Da sich die Zeitebenen manchmal vermischen, war es wichtig herauszufinden, ob und wann eine Frau in der Geschichte einer anderen auftauchen kann. Das wurde zum Schluss total kompliziert und technisch, und ich blickte überhaupt nicht mehr durch. Zum Glück halfen mir ein paar liebe Menschen, das Zeiträtsel zu lösen.
„Mädchen, Frau etc." wirkt experimentell und passt in keine der gängigen Genreschubladen, was auch auf einige Ihrer früheren Roman zutrifft. Reizt Sie grundsätzlich - das Neue, Andere?Tatsächlich liebe ich es, in meinen Büchern Dinge zu vermischen, zeitlich, räumlich und stilistisch. Grenzüberschreitend zu schreiben ist mein Ziel; ohne Rücksicht auf Genres, Rassen, Kulturen, Geschlechter, Geschichte und Sexualität. Ich möchte einen Gegensatz bieten zu den immer noch von der Industrie bevorzugten weißen, männlichen Themen und Autoren. Wir brauchen dringend eine größere Vielfalt von Stimmen und Perspektiven. In Großbritannien sind die meisten Werke von einheimischen schwarzen Schriftstellerinnen viel zu lange vergessen worden. Es gab Erfolge von schwarzen US-Amerikarinnen, aber wo waren wir? Teile der weißen männlichen Literaturelite leugnen sogar, dass die Arbeit von Frauen oder People of colour in der Vergangenheit vernachlässigt wurde. Mein wichtigstes Ziel ist es deswegen, die verborgenen Erzählungen und Aspekte der afrikanischen Diaspora zu erkunden - das ist eigentlich ein ganz einfacher Ansatz.
Den Sie allerdings auf ganz besondere Art und Weise umsetzen.Stimmt. Ich möchte originelle und aufregende Wege finden, und diese Art der Umsetzung wirkt zunächst vielleicht nicht einfach. Aber sie ist trotzdem zugänglich für die meisten Leser. Wer ein paar Seiten meines neuen Romans gelesen hat, wird sich an den besonderen Stil gewöhnen.
Ihre spezielle Sprache scheint von Rhythmus und Energie geprägt zu sein. Spüren Sie beides, wenn Sie schreiben?Ja, immer. Was sicher auch daran liegt, dass ich eine orale Schriftstellerin bin. Ich lese laut, was ich geschrieben habe, denn ich muss es hören und fühlen, ich brauche den Klang. Wer nur stumm liest, übersieht gerne mal Dinge die falsch sind - wer es dagegen ausspricht, hört es viel eher. Das habe ich am Theater gelernt; ich begann schon in den frühen 1980er Jahren für die Bühne zu schreiben, und dazu gehörte, die eigenen Sätze auch zu hören, auf der Bühne zu performen. In dieser Zeit habe ich das verinnerlicht, und seitdem habe ich das Ziel vor Augen, meine Sätze absolut perfekt klingen zu lassen.
Die Frau, die in Ihrem neuen Roman den meisten Raum einnimmt, heißt Amma. Auch diese lesbische Feministin kommt aus der Theaterszene der 1980er Jahre - hatten Sie ein reales Vorbild für diese Protagonistin?Einige Freundinnen von mir behaupten, Amma sei ich. Aber das stimmt nicht! Ich habe zum Beispiel bei weitem nicht mit so vielen Menschen geschlafen wie Amma. (Lacht) Allerdings basiert sie vage auf meinem jüngeren Ich. Auch ich komme aus einer gegenkulturellen Gemeinschaft. Ich war damals in einer Gruppe der schwarzen und asiatischen Kunstszene, und wir wollten Kunst aus unserer Perspektive machen. Doch die britische Gesellschaft war damals total desinteressiert an unserer Kreativität, wir wurden völlig ignoriert. Also haben wir unsere eigenen Spielorte entwickelt, so wie Amma im Roman das Bush Women Theater gründet. Ich will mit „Mädchen, Frau etc." auch Einblicke in die Subkultur dieser Zeit geben.
Welche Übereinstimmungen oder Gegensätze gibt es sonst noch in den Biografien von Amma und Ihnen?Ich bin Ende der 1980er Jahre aus dem radikalen alternativen und lesbischen Leben ausgestiegen und seitdem heterosexuell, wohingegen Amma weiterhin in diesem Umfeld lebt. Andererseits hat ihr Theaterstück in meinem Buch Premiere am National Theater, dem Herz des Establishments.
Und Sie sind 2019 mit dem Booker Prize, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet worden. Wie hat sich Ihr Leben seitdem verändert?Ich habe endlich eine größere Plattform für meine Anliegen, und das genieße ich natürlich. Denn ich war mein ganzes Leben lang Aktivistin, und ich werde es auch weiterhin bleiben. Ich muss auch ganz klar sagen: Ich hätte nicht die erste schwarze Schriftstellerin sein dürfen, die diesen Preis bekommt!
Der Booker Prize hat meinen Status in der Buchbranche grundlegend verändert, sodass jetzt sogar manchmal einige Leute in der Industrie ängstliche Zitteranfälle bekommen, wenn ich mich zu brisanten Themen äußere. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich so eine Auszeichnung als Motivation und Bestätigung brauchte, aber jetzt, am Ziel nach dieser langen Reise, will ich einfach nur weiter kreativ sein, mehr Bücher schreiben und etwas bewirken.
Haben Sie schon als junge Schriftstellerin auf eine internationale Leserschaft hingearbeitet, um mehr Möglichkeiten zu haben?Nein. Das war nicht mein Ziel, denn zunächst war es nicht einmal denkbar überhaupt ein Buch zu veröffentlichen. Als 1994 mein erster Gedichtband erschien, konnte mich zwar dadurch als junge Feministin ausdrücken, aber ich bekam keinerlei Aufmerksamkeit und wurde nicht dafür bezahlt. Erst nach diesem Buch habe ich gemerkt dass ich meine Ziele hoch setzen kann, dass ich den Durchbruch schaffen könnte, aber es dauerte noch eine Weile, bis ich durch kreative Visualisierung und positives Denken meine Ziele klar formulieren und ansteuern konnte. Davor hatte mein Ehrgeiz keine Struktur, aber ich wollte schon immer kompromisslos schreiben und veröffentlichen. Zum Glück hat sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren soweit verändert, dass auch eine Auszeichnung wie der Booker Prize für eine Schriftstellerin wie mich möglich geworden ist.
Das heißt, Sie sehen eine positive Entwicklung, was den Stellenwert von schwarzen Schriftstellerinnen betrifft?Ja. Ich bin durchaus hoffnungsvoll, dass der aktuelle Trend, mehr schwarze Frauen zu veröffentlichen anhält. Wenn man sich die Verlegerseite anguckt, merkt man zwar, dass es noch immer eine sehr weiße Industrie ist und zu wenig Menschen aus schwarzen Communities über Neuerscheinungen entscheiden. Aber es tut sich etwas. Im Grunde genommen hat sich die positive Entwicklung schon abgezeichnet, denn vor allem im Sachbuchbereich erscheinen seit einigen Jahren mehr Bücher schwarzer Frauen. Black Lives Matter hat auf jeden Fall geholfen, das Bewusstsein zu schärfen und zu verändern. Und plötzlich sind sie da, die frischen schwarzen Stimmen, die aus dem Einerlei herausstechen. Denn das passiert, wenn man auf einmal die zuvor ignorierten Werke publiziert: Sie fallen auf, weil sie anders und neu sind und sich deutlich von dem unterscheiden, was wir zur Genüge gelesen haben.
Klingt fast so, als könnten Sie sich leisten Ihr Engagement als Aktivistin in Zukunft etwas zurückzufahren.Schön wäre es! Aber man darf nicht vergessen: Wir brauchen auch neue Literaturkanons. Denn jene der Vergangenheit sind erstellt worden von Männern, die in Oxord und Cambridge in rein männlichen Klassen studiert haben, wo man ihnen etwas über Romane von weißen Männern beigebracht hat, die vor allem über weiße männliche Protagonisten schreiben. Ich werde also weiterhin aktiv bleiben, und es ist sicher gut, in fünf Jahren genau zu überprüfen, ob die hoffnungsvollen Trends von heute länger angehalten haben.
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