SPIEGEL ONLINE: In Ihrem neuen Roman bezeichnen Sie die Mitglieder einer Gerichtsjury als "Götter der Schuld" und schreiben, dass sich jeder Mensch auf irgendeine Weise schuldig fühle. Was plagt Sie persönlich?
Michael Connelly: Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, gibt es da zwar einige Dinge, die ich bereue. Aber zum Glück ist nichts allzu Schweres oder Belastendes dabei. Das, was mich im Nachhinein am meisten beschäftigt, ist, wie einige Beziehungen zu schnell oder unter schlechten Bedingungen zu Ende gegangen sind. So was verursacht immer Schuldgefühle.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass es jemanden gibt, der alle Menschen beobachtet und ihr Verhalten bewertet?
Connelly: Ich glaube, man sollte sich so verhalten als ob da jemand ist, ja. Das richtet den eigenen moralischen Kompass aus.
SPIEGEL ONLINE: Standen Sie selbst - unabhängig von Ihrer Recherche - schon einmal vor Gericht?
Connelly: Als ich noch Reporter war, musste ich mehrmals in Prozessen als Zeuge aussagen. Und ich war tatsächlich einmal Mitglied einer Jury für ein eher kleines Drogenvergehen. Für mich war es sehr schwer, zu einer Entscheidung zu kommen, denn es ging nur um Drogen für den eigenen Gebrauch, und trotzdem war die Strafe sehr hoch angesetzt worden. Ich wusste, dass der Angeklagte schuldig war, aber mir schien das Verbrechen nicht schlimm genug für die geplante Bestrafung. Also zerbrach ich mir ewig den Kopf und war hin- und hergerissen, ob ich für Verurteilung oder Freispruch plädieren sollte.
SPIEGEL ONLINE: Und?
Connelly: Eine Entscheidung war nicht mehr nötig. Der Angeklagte akzeptierte einen Deal der Staatsanwaltschaft, der ihm eine niedrigere Strafe garantierte.
SPIEGEL ONLINE: Arbeiten Sie an den Justizkrimis um Mickey Haller anders als an den Romanen mit dem Polizisten Harry Bosch?
Connelly: Die Bücher mit Haller erfordern mehr Vorbereitung und Recherche. Und ich brauche länger für sie. Das hat damit zu tun, dass die Justizarbeit mehr Einschränkungen hat als die reine Detektivarbeit. Wenn ich einen neuen Bosch beginne, fange ich einfach an zu schreiben - in seinem Metier kenne ich mich aus. Bei Haller muss ich mich dagegen erst mit meinen juristischen Beratern zusammensetzen und diskutieren, worüber ich schreibe und wie. Mir ist es sehr wichtig, dass all meine Figuren und Fälle realistisch und nachvollziehbar sind.
SPIEGEL ONLINE: Während viele Autoren über die Verfilmungen ihrer Bücher klagen, scheinen Sie die Adaption Ihrer Harry-Bosch-Krimis für die Amazon-Serie "Bosch" zu mögen. Waren Sie einfach schlauer beim Vertragsabschluss?
Connelly: Nein. Ich glaube nicht, dass ich schlauer bin als irgendjemand anderes. Vielleicht höchstens etwas geduldiger.
SPIEGEL ONLINE: Wie meinen Sie das?
Connelly: Aufgrund des großen Erfolgs meiner Bücher konnte ich so lange abwarten, bis ich genau das bekam, was ich wollte. Ich ließ mir Zeit. Und zwar so lange, bis ich eine Beteiligung als ausführender Produzent und ein Mitspracherecht in allen wichtigen Angelegenheiten bekam.
SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das im Produktionsalltag?
Connelly: Ich kann alles mitbestimmen: von der Locationsuche über Drehbücher bis zur Besetzung und sogar zur Werbung. Was allerdings auch bedeutet, dass ich verantwortlich bin. Ich kann also niemandem außer mir selbst die Schuld geben, falls es nicht gut läuft. So weit so gut: Ich finde, es läuft!
SPIEGEL ONLINE: Wie nah an Ihren Bosch-Romanen ist die Serie?
Connelly: In der ersten Staffel haben wir Teile der Plots aus drei Bosch-Büchern verarbeitet und diese miteinander verflochten. Ein Plot reicht für vier Episoden, einer für acht und einer für alle zehn. Innerhalb der kompletten Erzählspanne geben wir Harry Boschs Vergangenheit preis, stellen zum Beispiel seine Ex-Frau und seine Tochter vor. Wir zeigen alles, was Harry Bosch zu dem Mann gemacht hat, der er ist. Ich glaube, die Serie zeigt ein sehr präzises Bild von Harrys Charakter und den Romanen. Und ich hoffe natürlich, dass dieses Bild seinen Fans gefällt!
SPIEGEL ONLINE: Basiert die Figur Harry Bosch eigentlich auf einem realen Polizisten?
Connelly: Sie basiert nicht auf einem einzelnen Cop, sondern entspricht vielmehr einem Amalgam aus drei Polizisten, die ich als Reporter kannte. Hinzu kommen Aspekte verschiedener fiktionaler Detektive aus Büchern und Filmen, die ich mag.
SPIEGEL ONLINE: Ein Beispiel?
Connelly: Ich glaube - und hoffe! - dass Teile von Raymond Chandlers Philip Marlowe in ihm sind, ebenso wie von Lew Archer, Dirty Harry Callahan, Frank Bullit und vielen anderen.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind produktiver und erfolgreicher als ihr literarisches Vorbild Raymond Chandler. Gibt es dennoch etwas, das Sie noch immer von ihm lernen können?
Connelly: Man kann Chandlers Erfolg gar nicht ermessen. Er hat zwar tatsächlich nur sechs Romane geschrieben und diese wurden veröffentlicht, lange bevor es E-Books, Hörbücher und alle anderen Wege gab, auf denen man heute seine Leser erreichen kann. Dennoch hat seine Arbeit die Zeit überlebt. Das, was er geschrieben hat, bleibt auch nach all diesen Jahren einflussreich, wichtig und wahr. Und genau das ist, woraus wahre Kunst und echter Erfolg im kreativen Schaffen bestehen. Nach diesen Maßstäben bewegt sich mein Erfolg nicht einmal annähernd in Chandlers Sphären.
SPIEGEL ONLINE: Warum ist Chandlers Prosa so zeitlos?
Connelly: Das Herz einer Angelegenheit zu erfassen, zur essentiellen Wahrheit eines Platzes oder einer Gesellschaft vorzudringen, das waren Chandlers Fähigkeiten. Wir Menschen verändern uns nicht so schnell wie man denkt. Wenn Chandler 1949 schreibt, dass er sich "so leer fühlt wie der Raum zwischen den Sternen", dann verstehen wir, was das 2016 bedeutet. Das ist die Aufgabe von Schriftstellern: die Zeit zu überdauern. Aber nur ganz wenige erreichen es.