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„Unsere Existenz ist durch Atemlosigkeit geprägt"

Fotos: privat

In Italien leben Schätzungen zufolge über fünf Millionen Menschen ohne italienische Staatsbürgerschaft. Viele von ihnen sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die in Italien geboren oder aufgewachsen sind und nur den Pass des Herkunftslands ihrer nach Italien eingewanderten Eltern besitzen - in mehr als der Hälfte der Fälle eines Nicht-EU-Staates. Sie können nicht wählen oder nur beschränkt im öffentlichen Dienst arbeiten, für Schulreisen ins Ausland oder das Erasmus-Programm brauchen sie oft eine Vielzahl an Unterlagen, manchmal sogar ein Visum. Und als Inhaber*innen eines Aufenthaltstitels erfahren viele Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.

Das italienische Staatsangehörigkeitsgesetz basiert auf dem sogenannten Abstammungsprinzip

Aufrechterhalten wird diese Form der institutionellen Diskriminierung, wie sie in vielen Nationalstaaten typisch ist, durch das sogenannte Staatsangehörigkeitsgesetz. Das italienische, das gerade 30 Jahre alt geworden ist, basiert jedoch auf dem sogenannten Abstammungsprinzip und ist dabei besonders streng im Vergleich zu anderen Systemen. Demnach bekommt ein Kind qua Geburt die italienische Staatsangehörigkeit, wenn mindestens ein Elternteil sie hat. Schon bei seiner Verabschiedung 1992 hinkte das Gesetz der Realität hinterher: Italien war damals bereits ein Einwanderungsland und gerade in den 1990er-Jahren Ziel Tausender Menschen, die vor Armut etwa aus Albanien übers Meer flüchteten. An ihre Nachfahren, die in Italien heranwachsen würden, wurde bei der Verfassung des Gesetzestextes nicht gedacht.

Wie läuft ein Antrag auf Staatsbürgerschaft in Italien?

Bis heute können in Italien geborene Kinder ausländischer Eltern erst ab dem 18. Lebensjahr die italienische Staatsbürgerschaft beantragen - aber auch nur, wenn sie bis zur Volljährigkeit einen ununterbrochenen Aufenthalt in Italien nachweisen können. Für im Ausland Geborene fallen noch weitere Voraussetzungen für die Einbürgerung an, auch wenn sie bereits im Vorschulalter nach Italien gekommen sind: Neben einer Wohnsitzfrist von zehn Jahren müssen sie etwa ein Mindesteinkommen nachweisen. Die Einbürgerung gestaltet sich dabei meist als ein langwieriger Prozess mit vielen bürokratischen Hürden. Zudem haben die Behörden einen Ermessensspielraum, was laut Betroffenen teils Willkür und Diskriminierung begünstigt.

Wird das Staatsbürgerschaftsrecht bald reformiert?

Der jüngste Versuch zur Reform des Gesetzes scheiterte 2017 im Senat. Ein neuer Reformvorschlag wurde in diesem Jahr vorgestellt: Dieser möchte den Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft für Minderjährige ermöglichen, die mindestens fünf Jahre eine Schule in Italien besucht haben. Giuseppe Brescia von der Fünf-Sterne-Bewegung, Autor des Gesetzestextes, setzt sich für eine Abstimmung noch vor Ende der Legislaturperiode 2023 ein. Doch über 700 Änderungsvorschläge wurden eingereicht, vor allem von den rechten Parteien Lega und Fratelli d'Italia, die eine solche Reform verhindern wollen.


Hier geben vier „Italiener*innen ohne Staatsbürgerschaft" Einblick in ihr Leben:


Sonny Olumati, 35, ist in Rom geboren und hat die nigerianische Staatsbürgerschaft.
Er ist Aktivist bei „Italiani senza cittadinanza". Seit 2016 setzt sich die Bewegung für die Rechte nicht anerkannter Italiener*innen ein.

Meine Eltern stammen aus Nigeria. Ich bin Römer. Und wie alle Römer*innen hänge ich sehr an meiner Stadt. Genauer gesagt komme ich aus Ostia, einem Vorort, wo wir Kinder von Einwander*innen schon in den späten 1990er-Jahren stärker als in anderen Bezirken vertreten waren.

Wir Aktivist*innen der Bewegung „Italiani senza cittadinanza" sind eine Art „Elite", denn wir haben unsere Realität zum Ansporn für den Widerstand gemacht. Doch viele andere sind einfach entmutigt. Dass über einer Million jungen Italiener*innen die Staatsbürgerschaft ihres eigenen Landes verwehrt wird, halte ich für zutiefst antidemokratisch und illiberal. Damit wird uns der Zugang zu gleichen Chancen verwehrt. In der Schule durfte ich an Reisen ins Ausland nicht teilnehmen, weil ich die benötigte Dokumentation nicht hatte. Mit meinem Medizinstudium habe ich erst mal pausiert, obwohl ich weiterhin Neurochirurg werden möchte: Als Schwarzer Mensch ohne italienischen Pass, der als Einwanderer angesehen wird, befürchte ich, in diesem äußerst elitären Beruf noch mehr Rassismus zu erfahren. Die Angst, jemandes „Wasserträger" sein zu müssen, hält mich zurück. Auch in meiner Tänzerkarriere habe ich Diskriminierung erfahren: Häufig wurde ich von potenziellen Arbeitgebern nicht mehr kontaktiert, weil die Anstellung eines ausländischen Staatsbürgers mit Aufenthaltserlaubnis einen zu großen bürokratischen Aufwand bedeutete. Um den Job zu bekommen, musste ich zehnmal besser sein als die anderen Bewerber*innen.


Clara Osma, 23, ist im süditalienischen Trebisacce geboren und hat die albanische Staatsbürgerschaft

1998 landeten meine Eltern an der Küste Apuliens - mit einem Schlauchboot aus Albanien. Kurz darauf wurde ich geboren. Damals lebten meine Eltern hier noch illegal und schufteten Tag und Nacht als Landarbeiter*innen. Deshalb mussten sie mich bald zu meinen Großeltern nach Albanien zurückbringen. Drei Jahre später haben sie mich dann wieder abgeholt, seitdem lebe ich in Italien. Hier bin ich zur Schule gegangen, hier habe ich studiert, hier zahle ich Steuern. Aber wegen der drei Jahre, die ich als kleines Kind in Albanien verbracht habe, hatte ich mit 18 keinen Anspruch darauf, die italienische Staatsbürgerschaft als in Italien Geborene zu beantragen. 2019 habe ich einen Antrag auf Einbürgerung gestellt, der bis heute offen ist.

In Italien habe ich Kulturvermittlung studiert. In Berlin möchte ich erst mein Deutsch verbessern und dann soziale Arbeit studieren. Aber noch stecke ich in Locorotondo fest und arbeite in einer Bar für weniger als fünf Euro pro Stunde. Inzwischen habe ich drei Arbeitsangebote in Museen und Hotels in Berlin verpasst. Wenn mir das Warten zu viel sei, solle ich doch einfach nach Albanien zurückkehren, haben mir die Beamt*innen in Italien gesagt. All das ist psychisch sehr belastend und hat schon zu Depressionen und körperlichen Rückschlägen geführt. Ich will meinen Traum nicht aufgeben, aber oft frage ich mich, ob mir die Kraft reicht.


Omar Neffati, 26, kam mit sechs Monaten nach Italien und hat einen tunesischen Pass
Die Staatsbürgerschaft ist nicht bloß ein Papier, das mein Italienischsein bescheinigen soll. Sie ist ein Schlüssel zu Ämtern und Karrieren, die mir bis heute versperrt sind. Ich würde mich etwa gerne für meine Stadt, Viterbo, engagieren. Doch ich kann nicht bei Wahlen antreten und nur beschränkt im öffentlichen Dienst arbeiten. Mein Studium der internationalen Beziehungen, meine Erfahrung als politischer Aktivist, meine multikulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit spielen da keine Rolle. Wählen kann ich auch nicht. Sogar das Recht, in meinem eigenen Land zu bleiben, muss ich mir immer wieder neu verdienen: Ich darf nicht riskieren, zwischendurch meine Arbeit zu verlieren, sonst bekomme ich keine Aufenthaltserlaubnis. Ohne Aufenthaltserlaubnis wäre ich illegal und könnte nach Tunesien abgeschoben werden.
Ich habe immerhin das Glück, eine Ausbildung genossen zu haben. Das schenkt mir kulturelles Kapital. Ich begreife meine Situation und kann sie deshalb leichter verändern. Andere haben dieses Privileg nicht und spüren nur Ärger und Frust. Und doch: Ich bin mir sicher, dass wir uns eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes erkämpfen werden, denn es geht um universelle Gerechtigkeit. Wenn ich die italienische Staatsbürgerschaft erhalte, werde ich als Erstes meinen Wahlschein holen - hoffentlich rechtzeitig für die nächste Parlamentswahl 2023.

Fioralba Duma, 32, kam mit elf Jahren nach Italien und hat einen albanischen Pass. Auch sie ist Aktivistin bei „Italiani senza cittadinanza".

Der italienische Traum meines Vaters ist bereits im italienischen Klang meines Vornamens enthalten: Fioralba. 2000 hat er Albanien verlassen. Ein Jahr später, ich war damals elf, sind meine Mutter, meine Schwester und ich ihm gefolgt. Wir sind mit einem Touristenvisum nach Italien eingereist und dann geblieben.

Heute bin ich 32 Jahre alt, wohne in Rom, bin als Kommunikationsexpertin im sozialen Bereich tätig und habe immer noch keinen Anspruch auf die italienische Staatsbürgerschaft. Wegen meiner als prekär geltenden Arbeitssituation erfülle ich die Einkommensvoraussetzung nicht. Doch die Staatsbürgerschaft sollte ein Recht sein und keine Auszeichnung für besondere Verdienste. Das Einkommen dürfte dabei keine Rolle spielen, insbesondere nicht in einem Land, wo die Arbeitslosenquote vor allem unter jungen Menschen hoch und Schwarzarbeit weit verbreitet ist.

Unsere Existenz als Italiener*innen ohne Staatsbürgerschaft ist durch Atemlosigkeit geprägt, denn all unsere Lebensentscheidungen werden durch unfassbare, ungerechte Anforderungen beeinflusst.


Dieser Text wurde veröffentlicht unter der Lizenz CC-BY-NC-ND-4.0-DE. Die Fotos dürfen nicht verwendet werden.

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