Ein hohes Gebäude im Essener Norden. Arbeiterviertel, schrammelige Schmucklosigkeit. Ruhrpott eben. Die Gegend hat viele Narben, es herrscht der Charme von Vergänglichkeit. Ganz früher stand hier ein altes Franziskanerkloster. Heute ist hinter der verspiegelten 60er-Jahre-Fassade davon nichts mehr zu sehen. Über dem Eingang prangt der Schriftzug UnPerfekthaus. Krakelig fast, gelb, einladend. Fünf Etagen, 4000 Quadratmeter. Treffpunkt für Kreative, Tummelplatz netter, schräger Leute, die ihre Ideen ausleben wollen.
Viele haben lange darauf gewartet. Manche ein Leben lang. Auch auf einen wie Reinhard Wiesemann. Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, er hat diese Räume der Träume geschaffen. Seine Philosophie: Kreativität entsteht am besten dort, wo nicht alles perfekt ist. Daher der Name des Hauses. Er gibt Ideen Raum, hilft Menschen, sich zu verwirklichen. Sprudelnde Brutstätten, schützende Nester. Fehler erlaubt, zaghafte Grobentwürfe, mit heiterem Mut zur Lücke. Nette Aha-Effekte. Einfach leben, einfach mal anders sein. Menschen, die das wollen, können sich für wenig Geld einmieten. Besucher zahlen Eintritt, wenn sie sich Anregungen holen wollen. Das Konzept geht perfekt auf. enorm hat sich einen Tag lang davon überzeugt.
Graffities, Gartenkunst und Lichtinstallationen9.15 Uhr: Noch liegen die kreativen Freiräume ziemlich ungenützt da. Das Café im Erdgeschoss des Hauses ist beinahe menschenleer. Von der Industriedecke baumeln vergoldete Hammer, Meißel und Schraubenzieher herab. „Heute Beicht-Gelegenheit in der Sakraments-Kapelle" steht am Eingang. Das Kloster ist überall. Auch der Hang zum Bekehren?
10.13 Uhr: Es geht schon los. Eine junge Frau lobt die tolle, produktive und einzigartige Umgebung des Hauses. Sie ähnelt Sängerin Jamie-Lee Kriewitz vom Eurovision Song Contest. Cornelia Sabo redet viel, dabei hämmert sie gnadenlos auf ihr Tablet ein. „Das hier gönne ich mir alle zwei Wochen", sagt sie. Sie gibt in unregelmäßigen Abständen Zumbakurse für Flüchtlinge in einem der Event-Räume. Die 25-Jährige lächelt, dann widmet sie sich wieder ihrem Fantasy-Videospiel. Später beginnt sie, Bewerbungen zu schreiben. „Ich suche was als Ökotrophologin", sagt sie. „Hauptsache, ich kriege nichts in der Fleischverarbeitung." Cornelia ist Vegetarierin.
10.45 Uhr: Auf dem Weg nach oben, vorbei an Graffities, Gartenkunst und Lichtinstallationen. Eine Tür steht offen, der Mann im Raum hat gerade keine Zeit zum Quatschen, weil er mitten im Shooting ist. „Das ist so was Intimes, da möchte ich nicht, dass wir gestört werden. Ist das okay?" fragt er. In einer Stunde hätte er Zeit, sein Modell nickt dankbar. Später erzählt Peter Knauf. aus seinem Leben. Er ist jetzt über sechzig, war früher Sozialarbeiter in Castrop-Rauxel. Mit der Fotografie erfüllt er sich gerade einen Lebenstraum. Frauen in ihrer natürlichen Schönheit zu fotografieren. Das wollte er schon immer! „Mein Projekt heißt Menschenbilderfotografie", sagt er. „Frauen finde ich irgendwie schöner als Männer. Ich spreche sie einfach auf der Straße an, ob sie Lust hätten, mir Modell zu stehen." Dafür zahlt Knauf nichts, die Frauen erhalten als Lohn ein paar seiner Aufnahmen. Einige Portraits stellt er im Kaminzimmer aus. Er teilt sich das Atelier mit anderen Fotografen, die sich alle in einem Terminkalender eintragen, um Zeiten zu blocken. „Eigentlich klappt das immer ganz gut", sagt er, „nur neulich hat einer was mit Federn gemacht und den ganzen Mist hier nicht weggeräumt. Das war scheiße." Zum Abschied bietet er einen Bonbon zum Wohlfühlen an.
Was hat der denn jetzt schon wieder vor?12.19 Uhr: Man schaut sich gern ins Gesicht. Lächelt zurück, guckt neugierig und fragend nach. Was hat der denn jetzt schon wieder vor? Wird das was Neues? Auch geflirtet wird nicht zu knapp, sagt einer der Künstler. Kein Wunder, bei bis zu hundert Musikern, Wand-Tattoo-Sprayern, Game-Designern, Malern, Juwelieren, Jongleuren, Kalligraphen. Und einem fast gleichen Anteil von Frauen und Männern. Sie alle mieten für 45 Euro pro Quartal nicht nur ein günstiges Atelier oder einen Bürotisch, sondern stellen sich selbst wie in einer gut besuchten Galerie aus. Sogar die Kosten der PR-Flyer jedes Kreativen übernimmt Mäzen Reinhard Wiesemann. Coworker und Gäste, die herumschlendern, Menschen kennenlernen und sich inspirieren lassen wollen, zahlen für Eintritt, Essen und Trinken. Die kleine Freiheit ohne alkoholische Getränke am Silberbändchen gibt's für 24,90 Euro.
13.05 Uhr: Das Künstlervolk wirkt locker, gelöst. Auch die vielen Start-up-Menschen in den Büro-Etagen, an den Getränke-Inseln, die überall im Haus als Orte der Begegnung dienen, zeigen sich ziemlich entspannt. Manche sitzen in Vierergruppen, andere mit bis zu acht zusammen. Viele quasseln miteinander, lachen, sprudeln vor lauter und lauten Ideen. Firmen schicken ihre Manager hierher, damit sie neue Perpektiven kennenlernen. Dinge neu betrachten, neu bewerten, spüren, was wirklich wichtig ist. Sie sollen die unverkrampfte Atmosphäre aufsaugen, keine Spießer im Anzug sein. Diesen wunderbaren, bunten Kosmos von Reinhard Wiesemann schmecken. Einfach mal nicht perfekt sein.
14.10 Uhr: Wo waren gleich die Treffpunkte von „Spielend durchs Uph"? Man kann es auf einem der Flyer nachlesen. „Vier gewinnt" auf der Dachterrasse, Kickern im Wintergarten, Tischtennis in der dritten Etage, Flippern im Erdgeschoss, Darts im Keller-Atelier. Keller klingt cool, Keller verspricht ein wenig Abkühlung.
15.45 Uhr: Hinter einer Tür steht ein braunes, abgewetztes Schreibpult. Es gehört zu Florian Eichhorn, der dort seine Visitenkarten mit Handynummern ausgelegt hat. Er kann gerade nicht selbst da sein, weil er in einer Kneipe jobbt. Trotzdem ist ein kleiner Blick erlaubt. Das Ganze nennt sich „Schreiberlings-Geschichten-Schmiede-Arbeitsplatz", an dem der Wortakrobat philosophisch-amüsante Sprüche ersinnt. Einige von ihnen sind großformatig im Haus zu finden. „Lesen gefährdet die Dummheit", steht irgendwo an der Wand.
Fremde Welten im Keller16.10 Uhr: Auch fremde Welten befinden sich im Keller. Oder Star-Wars-Nerds wie Scotty, er arbeitet in der „Werbwolfs Modellecke". Er fertigt Roboter, Modelle und Lichtinstallationen an. Alles mit Enterpriseartigen Raumgleitern, Darth-Vader-Accessoires oder „Steampunk", was immer das auch sein mag. Wer mehr dazu erfahren möchte, kann einfach das Handy an Werbwolfs QR-Code halten. In jedem Fall ist der Typ ein echter Fan, der sich mit etlichen Fantasy-Stars ablichten ließ. Die Fotos hat er voller Stolz über seine Roboter und Raumschiffe gehängt.
16.59 Uhr: In welcher Etage übt der Jongleur? Zum Glück kennen die Kreativen einander, schicken dich Richtung Theater- oder Disco-Raum. Musik klingt heraus, aus den Vierzigern oder so ähnlich. Jongleur Felix Feldmann probt gerade für seine neue Choreographie, die an Charlie Chaplin und seinen Film „Moderne Zeiten" erinnern soll. Er watschelt tatsächlich ein bisschen wie der Schauspieler, klimpert wie er mit den Augen. Der 36-Jährige hat auf der berühmten Rotterdamer University for the Arts seine vierjährige Ausbildung absolviert. Er trat bereits vor der niederländischen Königin Beatrix und Prinzessin Margriet auf. Er selbst redet nicht gern darüber. Stattdessen wirbelt er konzentriert seine Keulen herum. Der Mann des Understatements macht nach der schweißtreibenden Nummer eine Verbeugung, dankt dem zweiköpfigen Publikum. „Ist ganz gut, wenn ich auch mal vor Zuschauern jongliere. Dann kann ich das mit dem Blickkontakt trainieren." Felix hat nur auf Betreiben von Reinhard Wiesemann eine Homepage, tritt regelmäßig im UPh auf. Er selbst steckt viel zu tief im Künstlertunnel.
Besucher erleiden hier manchmal einen Kunstkollaps17.20 Uhr: Bilder, Plakate, Gemälde, Graffities, Gesichter. Besucher erleiden hier manchmal so eine Art Kunstkollaps. Vergleichbar mit einem Mammut-Einkaufsbummel am Samstagvormittag, ohne Luft zu holen. Zum Glück sitzt davor ein Typ mit Sonnenbrille, der echt beruhigt. Er sieht Jack Nicholson verdammt ähnlich, heißt aber deutsch, sehr deutsch: Norbert. Ist 58, kommt aus Recklinghausen. „Das ist etwa 30 Kilometer von Essen entfernt", sagt er und wartet auf seine 50plus-Facebook-Spiele-Gruppe auf der Dachterrasse. Das Treffen mit bis zu zehn Personen aus dem gesamten Ruhrgebiet findet unregelmäßig statt, um „Phase 10" oder „Rummy Cup" zu spielen. Norbert, der sich vom Jack-Nicholson-Vergleich immer sehr geschmeichelt fühlt, ist eigentlich Disponent in der Arbeitsförderung. Er freut sich, heute mal zwei Stunden früher ins UnPerfekthaus zu kommen, um die kreative Atmosphäre einzuatmen. Einfach nur die Leute zu beobachten. „Ich mag den Ort", sagt er. Dann steht er auf und begrüßt ein paar Leute seiner FB-Gruppe, mit denen er kurz darauf mit einem süffisanten Grinsen ganz verschwindet.
17.24 Uhr: Zurück ins Erdgeschoss. In einer marokkanisch gestalteten Ecke des Cafés sitzen Tanja, ihr Bruder Frank, dessen Frau Heike und Sohn Till. Für Tanja ist der Ausflug ins UnPerfekthaus ein Geburtstagsgeschenk. Sie ist noch ein wenig skeptisch, wie sie das hier alles finden soll, obwohl das Buffet richtig lecker war. Als sie vom achtjährigen Till in die „Kinderkreativ Werkstatt Rhinozeros" gezogen wird, kommt die Tante ohne großes Murren mit. Sie ist begeistert von den liebevoll gestalteten Bastelecken, in denen Georg Paßmann und dessen Kollegin Kinder und Erwachsene zum Kleben, Weben, Stricken, Kneten oder Matschen anregen möchten. Paßmann begann seinen Job vor zehn Jahren als Ein-Euro-Jobber und ist seither eng mit der „lila Claudia" und anderen lustigen Kunstköpfen verbunden. „Ich wohne hier fast", sagt der Rentner und widmet sich wieder dem kleinen Till. Der hat sich noch nicht entschieden, was für eine Figur er basteln will.
17.35 Uhr: Auch Malerin Natalia Trapp setzt auf ein Mitmach-Projekt, das sie vor sechs Jahren mit ihrem Mann gestartet hat. Reinhard Wiesemann hatte sie beide angesprochen. Heute bietet die 48-Jährige Weißrussin Quadratologo-Kurse für Hochzeitsgesellschaften, Firmen oder andere Gruppen an. Zeigt den Menschen eine Maltechnik, bei der man mit einer hilfreichen Netzstruktur auf der Leinwand schnell zum Erfolg kommen kann. Seit einiger Zeit aber ist sie leider alleine. „Mein Mann ist vor kurzem gestorben", erzählt die rothaarige Künstlerin und schluckt kurz. „Mal sehen, wie lange ich damit weitermache und ich dazu noch Lust habe. Aber die Methode ist so schön, weil danach fast jeder malen kann und es so toll aussieht."
Keine Vorgaben, keine Kontrollen, kein Gruppendruck18.14 Uhr: Die Kunst folgt einem im Un-Perfekthaus bis aufs Klo. Wer mal für kleine Kreative muss, wird mit einem Hörbuch-Märchen empfangen. Andere verwöhnen sich mit einem Chai-Tee am Getränke-Tresen. Wieder andere haken die letzten Programmpunkte ihres Kreativ-Besuchs-Programms ab, sitzen lieber nur so da und beobachten alles ganz genau. Künstler gucken. Wer weiß, vielleicht wollen sie ja bald mal selbst welche werden. Der Jamie-Lee-Verschnitt sitzt immer noch da und spielt mit dem Tablet.
18.58 Uhr: Reinhard Wiesemann und Karin Meyer betreten das Gebäude, plaudern kurz mit der Empfangsdame. Fragen die Küchencrew, ob es noch die leckeren Mojitos gibt, die perfekt zu den Enchilladas vom Abendbuffet passen würden. „Klar!", meint der Küchenchef und shaked die pfefferminzigen Longdrinks. „Super!", ruft Wiesemann und lobt lautstark seine Belegschaft. Alle sollen es hören. Dann wird er bereits von anderen Besuchern umarmt, begrüßt fröhlich eine Dame mit Hornbrille: „Ach, der Literaturzirkel tagt heute draußen? Viel Spaß!" Der Eigner und seine langjährige WG-Freundin und Buchhalterin Karin setzen sich in eine ruhige Ecke und reden leise. Sie haben gemeinsam einiges erlebt in Essen. Vor vielen Jahren renovierten sie mit ihrer Kommune die denkmalgeschützte Villa Vogelsang bei Essen, in der Meyer heute noch lebt. Wiesemann ist mit zwei Gästen ins Gespräch gekommen, schwelgt häufig im Damals. Mit 18 gründete er seine erste Firma für freie Software, danach machte er ein Vermögen.
20.10 Uhr: „Wollen wir nicht noch mal kurz auf die Dachterrasse gehen?", schlägt Wiesemann der kleinen Gruppe vor. Der Abend sei doch so wunderbar. Während Karin von den Anfängen des UPh erzählt, lehnt er sich zurück und lässt seinen Blick bis hin zur Kreuzeskirche schweifen. Ein befreundeter Bauunternehmer kaufte sie 2013 für einen symbolischen Euro, ließ sie für rund eine Million Euro zur Eventlocation restaurieren. Seitdem wird der ökumenische Bau von Kirchengemeinde und Kultur-Leuten genutzt.
21.20 Uhr: Irgendwann schweift das nette Plaudern unter freiem Himmel philosophisch ab. Darüber, wie man am liebsten älter werden möchte. „In einer kreativen Umgebung mit jungen Leuten", sagt Wieseman und lacht. Dann wird er ernst, redet leidenschaftlich über sein Haus. Er sagt: „Hier gibt es keine Vorgaben, keine Kontrollen, keinen Gruppendruck. Keiner will Maßstäbe setzen. Niemand behauptet, andere bewerten zu können. Bei uns definiert sich jeder durch das, was er gerade macht. Man muss sich einfach trauen, den Individuen Freiheiten zu geben." Reinhard Wiesemann gibt sie ihnen. Täglich. Soviel steht fest.