Giorgia Grimaldi

Journalistin, ehemalige Frankreich-Korrespondentin, Berlin

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Zeigen, was ist: Über die französisch-italienische Fluchtroute

Zeigen, was ist: Über die französisch-italienische Fluchtroute

Vor einigen Jahren war er selbst noch auf der Flucht, heute lenkt der Fotograf Sinawi Medine mit seiner Arbeit die Aufmerksamkeit auf die italienisch-französische Grenze. Ein gefährlicher Ort für Asylsuchende.

Weiße Weihnachten und Hüttengaudi – für viele ist eine verschneite Alpenlandschaft ein Grund zur Freude. Für andere ist Schnee eine lebensbedrohliche Herausforderung – eine von vielen auf dem Weg in die Freiheit. „Winter 2021 in Montgenèvre, die Grenzen sind geschlossen, Flüchtlingsfamilien überqueren die Berge bei Nacht, Schnee, während eines Sturms und unter extremen Bedingungen, um in Frankreich Asyl zu finden.” So lautet die Unterschrift zu einem Foto, das der Fotograf Sinawi Medine beim Korridor, dem Innsbrucker Preis für Dokumentarfotografie, eingereicht hat. Dick eingepackte Gestalten bahnen sich ihren Weg durch die weiße Masse, die den Boden bedeckt, hinein in einen Wald. Keine Lichtquelle erhellt ihnen den Pfad. Sinawi Medine hat Flüchtende auf ihrem ungewissen Weg über die französischen Alpen begleitet und es mit der daraus entstandenen Fotoserie auf die Shortlist geschafft.

Mit Anfang zwanzig beginnt Sinawi Medine sich für Fotografie zu begeistern. „Mein Cousin hatte ein Fotostudio und ich habe angefangen mit ihm zu arbeiten. Ich habe gemerkt: Das gefällt mir. Und ich habe weiter gemacht.” Die Geschichte des angehenden Fotografen spielt kurz vor der Jahrtausendwende in Eritrea, ein Land im Nordosten Afrikas. Doch mit Ende 20 verändert sich Medines Leben für immer.

Nach 30 Jahren bewaffneten Widerstands trennte sich Eritrea 1993 vom angrenzenden Äthiopien. Seitdem regiert Isaias Afewerki als Autokrat das Land. Nur eine einzige Partei ist in diesem Regime zugelassen. Das Parlament, das nur auf Anforderung des Präsidenten zusammenkommt, ist faktisch inaktiv und die bürgerlichen Grundrechte sind stark eingeschränkt. Eine Verfassung oder eine richtige Gewaltenteilung gibt es in Eritrea nicht, während die Gesellschaft durch verpflichtenden und zeitlich unbegrenzten Wehrdienst weitestgehend militarisiert wird. Dies sind nur einige der vielen Gründe, die seit 2000 zu Flucht, Migration und zu einer stetig wachsenden Diaspora führen.

Offizielle Zahlen über die Einwohner Eritreas gibt es laut Sinawi Medine nicht. Der Fotograf spricht von 3 bis 5 Millionen. „Sicher ist, dass es immer weniger werden. Ich denke 1.000 Menschen verlassen pro Tag das Land”, sagt er. Statistiken dazu gebe es aber nicht. Die Menschen ziehen in die Nachbarländer oder in den Süden nach Uganda. Viele fliehen aber mit einem ganz anderen Ziel: Europa. So flüchtete auch Sinawi Medine 2009 über den angrenzenden Sudan nach Nordafrika, setzte nach Italien über und landete schließlich nach Überqueren der Grenze in Frankreich. Viele entscheiden sich für diesen Weg. „Ich habe schon schwangere Frauen gesehen und Kleinkinder, aber auch einen über 60 Jahre alten Mann.”

„Es heißt immer, Migration wäre so kompliziert. Dabei ist es doch ganz simpel. Das sind Menschen, die Hilfe brauchen”

Heute lebt Sinawi Medine in Nizza, nahe der italienisch-französischen Grenze und arbeitet als Fotograf. Die Themen seiner Arbeit: Migration und Integration. Dabei begibt er sich immer wieder in Extremsituationen, zum Beispiel wenn er SOS Mediterranée begleitet, ein NGO, das sich der zivilen Seenotrettung verschrieben hat. Extrem ist aber nicht nur die Flucht übers Meer. Den Weg nach Frankreich, den Medine beschritt, entlang der Küste über die Städte Ventimiglia und Menton, ist heute durch verstärkte Militärpräsenz nur noch schwer für Flüchtende passierbar. „Deswegen suchen sie einen anderen Weg, um die Grenze zu überqueren - die Alpen”, erklärt er. Über den Gebirgspass von Montgenèvre, über den die Grenze verläuft, in das französische Briançon. Manche bleiben in Frankreich, andere ziehen weiter in die Schweiz oder nach Deutschland, manche schlagen sich sogar bis nach Großbritannien durch.

Während der Grenzübergang zwischen Italien und Frankreich entlang der Küste mit einem Auto oder dem Zug in ein paar Minuten passiert ist, bedeutet der Weg über die Alpen einen Fußmarsch von Wochen oder Monaten durch Schnee und Dunkelheit. Heute ist das die meist frequentierteste Route für Menschen auf der Flucht. Legal ist das allerdings nicht. So ist diese Reise nicht nur durch naturgegebene Hindernisse gefährlich. Immer wieder gibt es Interventionen der Polizei. Auch hiervon hat Sinawi Medine ein Foto eingereicht. Sie wüssten aber nicht genau, wo sich die Flüchtenden aufhalten. „Sie fangen einfach irgendwo im Gebirge mit ihrer Patrouille an und schauen dann”, berichtet Medine. Doch einzig die Rolle des Bösewichts will er der Polizei nicht zuschreiben. „Natürlich helfen sie auch Flüchtenden in Notsituationen. Menschen, die verletzt sind oder den Tod durch Kälte riskieren. Aber, Flüchtende ohne Papiere riskieren eben auch, festgenommen und ausgewiesen zu werden.”

„Dieses Thema zu bearbeiten ist keine Wahl, sondern eine Pflicht”

Ein Fotograf, der selbst Flucht erlebte, dokumentiert heute die Flucht anderer Menschen – klingt nach einer klassischen Heldengeschichte. Doch wie ist es, mit einem so schwierigen und potenziell retraumatisierendem Thema Tag für Tag zu arbeiten? „Klar ist das belastend, aber ich glaube, wenn es ein einfaches Thema wäre, würde ich meine Arbeit nicht machen. Wenn es einfach wäre, bräuchte es meine Arbeit auch nicht.” Trotzdem würde sich Sinawi Medine wünschen, dass sich die Situation „von heute auf morgen” ändert. Aber er weiß: so funktioniert das eben nicht. Der Fotograf hat seine eigene Art gefunden, damit umzugehen und sich dazu entschieden, die Menschen hinter diesem abstrakten Wort „Migration” zu zeigen. „Ich mache Fotos, um einen Dialog zu kreieren und zu zeigen, was los ist. Trotzdem, die Früchte deiner Arbeit erntest du nicht sofort, das funktioniert nicht wie ein Fast-Food-Laden. Aber: Fotos hinterlassen Spuren. Und vielleicht sieht die nächste Generation diese Fotos und wird darüber nachdenken, was sie besser machen kann.”

Laut Medine tue die Politik noch nicht genug, aber es gebe auch Positives. Zum Beispiel das Engagement vieler Bürger*innen, die Flüchtenden Hilfe anbieten. Die Schwierigkeit von heute liege vor allem im Zeigen und im Sehen. „Man sollte sehen und anerkennen, was ist. Und dafür muss man nicht bis zur Grenze kommen. Es passiert bereits überall, am Bahnhof, im Supermarkt, auf der Straße. Sprecht mit den Menschen, interessiert euch für sie, wir sind alle gleich. Jemand, der mir sagt, er wissen nichts von Migration oder wüsste nicht, was er tun kann, verstehe ich nicht. Ein Glas Wasser oder ein ‘Guten Tag’ kann schon helfen.”