Giorgia Grimaldi

Journalistin. Migrantische und internationale Perspektiven. Ehemalige..., Berlin

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Artikel

Das Problem mit den Brüsten: Protest und Prüderie

Die Debatte geht erneut los: Sollten Frauen auch oben ohne schwimmen dürfen? Der Blick in die Vergangenheit zeigt, warum der nackte Busen ein Politikum ist - und was die Französische Revolution damit zu tun hat.


In Göttingen dürfen nun auch Frauen oben ohne schwimmen. Das sorgt für Schlagzeilen. Grund genug, sich etwas genauer mit der weiblichen Brust zu beschäftigen - und der Frage nachzugehen: Was ist eigentlich das Problem mit dem Busen?

Blankziehen als Statement hat Tradition, zumindest bei Frauen. Zum Beispiel für Klima- und Tierschutz. Gegen die Ehrung umstrittener Künstler (Paris, 2017: Die feministische Gruppierung Femen boykottierte Roman Polanskis Werkschau), gegen veraltete Gesetze (Buenos Aires, 2017: Frauen wurden von der Polizei gehindert, sich oben ohne zu sonnen) und nicht zuletzt gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen oder auch gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Egal, wofür oder wogegen Frau auf die Straße geht: Geht es in irgendeiner Form um Freiheitsrechte, wird der Busen ausgepackt. 


Doch paradoxer könnte das kaum sein. Denn der Busen selbst genießt keine oder kaum Freiheit. Wie viele weibliche Brustwarzen wurden bereits von sozialen Netzwerken wie Instagram gelöscht, während dort männliche Brustwarzen unbehelligt die Feeds füllen? Auch öffentliches Stillen ist immer noch ein Aufreger.


Im Schwimmbad steht ebenfalls Prüderie an der Tagesordnung. Der gesellschaftliche Konsens lautete bisher stets: Männer dürfen mit nacktem Oberkörper baden, Frauen nicht. Im Sommer 2021 wurde eine Person, die sich als nichtbinär identifiziert, des Schwimmbades in Göttingen verwiesen, weil sie kein Oberteil trug. Nicht der erste Vorfall dieser Art in Deutschland. Doch bisher folgten den Debatten keine Veränderungen.


Die intersektionale feministische Bewegung „ Gleiche Brust für alle " hatte davon aber die Nase voll und wollte in puncto Badekleidung für Gleichberechtigung sorgen. Genauer gesagt möchten sie mit ihrer Petition erwirken, dass alle Personen unabhängig des Geschlechts sich gleichermaßen ohne Einschränkungen mit freiem Oberkörper bewegen dürfen. Das ist teilweise gelungen. Seit dem 1. Mai dürfen in Göttingen nun alle oben ohne schwimmen. Zumindest am Wochenende. Etwas Auslauf für den Busen. Juhu.


Wieso also diese Ambivalenz? Wie kann es sein, dass die weibliche Brust gleichzeitig Freiheitskämpferin und Persona non grata ist ? Die französische Soziologin, Philosophin und Politikwissenschaftlerin Camille Froidevaux-Metterie hat in der Vergangenheit geforscht und liefert in ihrem Buch „Brüste. Auf der Suche nach Freiheit" hat in der Vergangenheit geforscht ein paar Antworten.


Warum der Busen in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen wird

Auf den antiken bis mittelalterlichen Darstellungen der virgo lactans, der stillenden Maria, zeigt sich die Relevanz des Busens: weder Schönheitsideal noch Sexsymbol, sondern ikonisches Merkmal der heiligen Frau. In dieser Epoche ist die Brust noch nicht sexualisiert, sondern von der patriarchalen Kirche sakralisiert, die Muttermilch glorifiziert. Dieser „heilige" Dienst des Stillens markiert den Beginn einer neuen Tradition.


Laut Froidevaux-Metterie setzt in Europa die Sexualisierung der Brust mit der Renaissance ein. Die Madonna wird nun nicht mehr nur mütterlich abgebildet, sondern erotisiert. In der Mode verschwindet die voluminöse Bluse und das figurformende Mieder erobert den Markt, mit ihm betritt auch erstmals das Dekolleté die Bühne. Stillen wird zum No-Go. Adlige und betuchte Frauen geben ihr Kind an Ammen, man fürchtet das Erschlaffen des Busens nach dem Stillen und damit den Verlust sexueller Attraktivität. Es etabliert sich ein hierarchisches Gefälle zwischen der ernährenden und der erotischen Brust. Für sozial benachteiligte Frauen entwickelt sich das Stillen zur professionellen Nische, während der erotisierte Busen das Privileg der Oberschicht bleibt.


Die barbusige Marianne

Eine politische Dimension bekommt der weibliche Busen spätestens mit der Französischen Revolution. Personifiziert durch Marianne, der barbusigen Nationalallegorie Frankreichs, die 1830 von Eugène Delacroix bewaffnet im Revolutionsgetümmel abgebildet wird, wird die entblößte Brust zum Symbol der Freiheit und des Wandels. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau stilisiert die Brüste sogar zur Metapher der neuen republikanischen Ideale: „Eine Mutter, die ihr Kind selbst ernährt, ist großzügig, aufopfernd, treu und lehrt ihren Kindern die Werte der Gesellschaft zu respektieren." Stillen ist keine aristokratische Schande mehr, sondern wird zum patriotischen Akt.


Der sexualisierte Busen empört, der politische Busen macht Angst

Die To-Do-Liste des Multitasking-Busens wurde im Laufe der Geschichte also immer länger. Er muss ernähren, antörnen und politisieren. Diese Vielzahl an Einsatzmöglichkeiten bedeutet aber auch Macht. Und Frauen in Machtpositionen machen Angst, besonders Männern.


Die Frage, ob topless im Schwimmbad akzeptabel ist, bewegt die Menschen über Ländergrenzen hinweg. Der Fall in Göttingen schaffte es auch in die französische Presse, dabei ist in Frankreich, dem Vorreiter der freien Brust, die Prüderie dieselbe: Schwimmende Busen sind im Schwimmbad unerwünscht. In Schweden und in einigen Schwimmbädern Barcelonas ist man da schon weiter.


Will man diesem Widerspruch zwischen diesem symbolisch hochaufgeladenen Busen und der zensierten weiblichen Brust im Alltag nicht nur auf den Grund gehen, sondern auch aufbrechen, muss man laut Froidevaux-Metterie in der Pubertät ansetzen, denn da käme es zur Sexualisierung der weiblichen Brust. Erst nach dem Brustwachstum wird das Mädchen nicht mehr als asexuelles Kind wahrgenommen, sondern als heranreifende Frau. „Würden Frauen bereits mit Brüsten geboren, die wie die Vagina proportional zum Körper mitwachsen, gäbe es das ganze Theater vielleicht nicht", schreibt Froidevaux-Metterie.


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