Es ist der 23. Januar 1977, später Nachmittag. Der Massengutfrachter „Lucona" hält mit Kurs 104 Grad auf die Insel Minicoy im Arabischen Meer. Das Thermometer zeigt 38 Grad Celsius, es ist windstill und der Indische Ozean glatt wie ein Spiegel. Position 08,4949° Nord, 70,2674° Ost. Unmittelbar hintereinander explodieren zwei Sprengsätze. Der Knall ist ohrenbetäubend, ein Feuerball schießt in die Luft, überall ist Rauch. Die „Lucona" sinkt innerhalb von zwei Minuten. Sechs Besatzungsmitglieder werden durch die Detonationen getötet oder ertrinken. Der Kapitän, seine Frau und vier weitere Seeleute retten sich schwer verletzt in ein Dingi. Zehn Stunden treiben sie im Meer, ehe sie von den Männern des türkischen Tankers „Sapen I" gerettet werden.
Niederösterreich. Schloss Wetzlas im Waldviertel. Hans Pretterebner, 66, hat Kaffee gemacht, zündet sich eine Zigarette an, das Buch griffbereit. Pretterebner schaut aus dem Fenster in die Bäume. Der Wind schiebt Laub durch den Park. „Hier", sagt er und blättert, „Seite 336, hier ist der Untergang beschrieben." 34 Jahre sind seither vergangen, doch das Drama der „Lucona" verfolgt ihn bis heute. Pretterebner, ein schmaler Mann mit hoher Stirn, erzählt, wie er drei Jahre recherchierte, in elf Ländern, 350 Informanten befragte, den Schmuck seiner Frau versetzte, um die Druckerei zu bezahlen. Es ging nicht nur um die materielle Existenz. Die nächste Zigarette. Einmal, in Venedig, warteten drei Männer vor seinem Hotel, packten ihn, warfen sein Gepäck in den Kofferraum und sagten: „Sie fahren jetzt sofort wieder nach Hause. Sie machen keine Umwege und bleiben nicht stehen. Und kommen Sie nie mehr hierher zurück!"
Autor Gerhard WaldherrGerhard Waldherr, Jahrgang 1960, freier Journalist in Berlin und Autor beim Wirtschaftsmagazin „brand eins", befragte für seinen Artikel nicht nur Zeitzeugen in Wien und anderen Teilen Österreichs, sondern saß wochenlang über alten Unterlagen und Büchern. Die damaligen Aussagen sind teilweise so widersprüchlich und die Ereignisse um die gesunkene „Lucona" so bizarr, dass Waldherr am Ende immer noch nicht wusste, was seinerzeit im Indischen Ozean genau passiert ist. „Auf jeden Fall ist die Geschichte verrückt, unglaublich. So etwas hätte sich niemand ausdenken können." weitere Infos
„Der Fall Lucona - Ost-Spionage, Korruption und Mord im Dunstkreis der Regierungsspitze" erschien im Dezember 1987. Auf 672 Seiten deckte Pretterebner den wohl berühmtesten Betrugsfall Österreichs auf und wies nach, wie Politiker, Richter, Anwälte logen, tricksten, manipulierten, schamlos Macht und Amt missbrauchten. Es folgten 22 Beschlagnahmeversuche und einstweilige Verfügungen, 57 Klagen auf Unterlassung, Schadenersatz, Verleumdung und Verletzung des Amtsgeheimnisses. Pretterebner überstand sie alle, verkaufte 380?000 Exemplare, wurde ein Medienstar, tourte als Vortragsreisender durch Österreich. Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wurde eingerichtet, 16 Politiker und hochrangige Beamte mussten zurücktreten, ein Dutzend Menschen begingen Selbstmord oder starben unter mysteriösen Umständen. Pretterebner, Vater von vier Kindern, sagt: „Ich musste davon ausgehen, dass sie mich fertigmachen. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich zermartert habe."
Die „Lucona" wird von der Büsumer Werft GmbH gebaut, Stapellauf Oktober 1966. Sie ist 75 Meter lang, elf Meter breit, ein für die damalige Zeit modernes Schiff mit Echolot, Funkpeilung, Decca-Radaranlage. Dazu gibt es elektrische Luftzufuhrventilatoren in jedem Laderaum, Feuerschutzeinrichtungen und eine Rauchortungsanlage. Ihre niederländische Reederei hat die „Lucona" gerade erst generalüberholen lassen, als sie 1976 von der Schweizer Zapata AG gechartert wird. Hinter der Zapata AG steht der Wiener Kaufmann Udo Proksch. Ihm gehören diverse Unternehmen, darunter auch die edle k.?u.?k. Zuckerbäckerei „Demel". Um das Wiener Kaffeehaus am Kohlmarkt 14 ranken sich Legenden. Kaiser Franz Joseph, heißt es, liebte Demels Krapfen, Kaiserin Sissi soll süchtig gewesen sein nach dem Veilchensorbet.
4. Januar 1977. Die „Lucona" wird in Chioggia bei Venedig mit 28 Containern und Lattenkisten beladen. Laut Zollpapieren handelt es sich um eine Uranerzaufbereitungsanlage, Gesamtgewicht 700 Tonnen. Proksch, sein Kompagnon Hans-Peter Daimler und einige italienische Geschäftspartner verfolgen die Arbeiten. Jacob Puister, der niederländische Kapitän, wundert sich über die Fracht, die nicht nach Hochtechnologie aussieht, mehr noch über Prokschs Befehl, zwei Zylinder an den Außenwänden des Schiffes zu platzieren. Ungewöhnlich auch: Puister wird aufgefordert, täglich seine Position durchzugeben. Und: Das Ziel der Fahrt steht nicht fest. Erst in Hongkong gebe es letzte Direktiven, heißt es. Die Ladung ist bei der Bundesländer-Versicherung (BL-V) in Wien versichert. Die Versicherungssumme beträgt 212 Millionen Schilling. Am Morgen des 6. Januar überreicht Proksch der Frau des Kapitäns eine Torte und wünscht gute Reise.
Die „Lucona" und Proksch. Wer vom Schiff spricht, denkt sogleich an den Mann. Udo Proksch wird 1934 in Rostock ge?boren, als Sohn eines Mitarbeiters des nationalsozialistischen Geheimdiensts. Er lernt den Beruf des Schweinehirten, beginnt ein Designstudium, bricht es wieder ab, gondelt als junger Mann scheinbar ziellos durch die Welt und kreiert Brillen unter dem Künstlernamen Serge Kirchhofer. Er geriert sich als skurriler Visionär, nekrophiler Selbstdarsteller und unwiderstehlicher Frauenheld. Er gründet den „Verein der Senkrechtbegrabenen", entwirft Leichentücher, versucht sich als Filmemacher. Proksch heiratet die Burgschauspielerin Erika Pluhar, später dann Daphne Wagner, eine Enkelin des Komponisten Richard Wagner. Prokschs Wirkung auf Frauen ist phänomenal, vor allem in Adelskreisen. Er hat Kinder mit der Altgräfin Cecilie zu Salm-Reifferscheidt und mit Gräfin Alexandra Colloredo.
„Unglaubliche Weiber", erinnert sich Michael Jeannée, seit Jahrzehnten ein bekannter Boulevardreporter in Österreich, „dabei war er klaa, bunkert, schiach." Zu Deutsch: klein, untersetzt, hässlich. Proksch ist laut, ordinär, meist ungepflegt, ständig mit einem Revolver bewaffnet, nicht selten wild um sich schießend. Charlotte von Saurma schrieb in der deutschen „Männer Vogue": „Mit ihm auszugehen ist schönster Krimi." Der „Spiegel" schrieb: „Ein verderbtes Faktotum der halbfeinen Welt." Reporter Michael Jeannée sagt: „Er hatte etwas Napoleonisches. Ich bin ihm damals genauso verfallen wie der Rest der Stadt."
1972 erwirbt Proksch das „Demel" und richtet in den oberen Stockwerken den „Club 45" ein. Alle sitzen sie dort unter Kristalllüstern auf plüschigem Mobiliar. Von Bundeskanzler Bruno Kreisky bis Erzbischof Kardinal König. Von Wirtschaftsbossen, Fernsehintendanten über zwielichtige Salonlöwen bis hin zu Künstlern und Prominenten, darunter Friedensreich Hundertwasser, Helmut Qualtinger, André Heller, Niki Lauda, Karl Schranz. Für die erotischen Bedürfnisse der Kundschaft gibt es ein Separee.
Vorsitzender des „Club 45" ist der Wiener Bürgermeister und spätere SPÖ-Außenminister Leopold Gratz. SPÖ-Innenminister Karl Blecha ist Stammgast wie auch SPÖ-Verteidigungsminister Karl Ferdinand Freiherr von Lütgendorf. Pretterebner, der damals „Politische Briefe", ein konservatives Meinungsmagazin, herausgibt und leidenschaftlich gegen die mit absoluter Mehrheit herrschende SPÖ wettert, nennt den „Club 45" die „rote Loge von Wien". Und natürlich regiert auch unter den mächtigsten Männern des Landes die „Haberei", diese Mischung aus Mauscheleien, Postenschacher und Nepotismus, für die Wien berüchtigt ist. Nicht umsonst heißt es, der Balkan beginnt gleich hinter dem Naschmarkt. Proksch beschreibt es so: „Bei mir können sie tanzen, fressen und saufen, aber tanzen werden sie nach meiner Pfeife."
Am Tag nach dem Untergang der „Lucona" trifft sich Proksch mit Geschäftspartnern im mondänen Zürcher Hotel „Baur au Lac". Wiederum einen Tag später meldet die Zapata AG der BL-V den Schadensfall, die Nummer der Transportversicherungspolizze ist 37062. Zu diesem Zeitpunkt liegen über die Vorgänge im Indischen Ozean nur dürftige Informationen vor. Die BL-V schöpft Verdacht. Der Hausanwalt wird tätig, ein Privatdetektiv engagiert. Als Pretterebner und ein weiterer Journalist in die Recherche einsteigen, zeichnet sich bereits ein monströser Schwindel ab, koordiniert offenbar von Prokschs Kompagnon Daimler, einem entfernten Verwandten Gottlieb Daimlers. Auch er ist kleinwüchsig, wenngleich seriös im Auftreten. Die BL-V glaubt bald beweisen zu können, dass es weder die Uranerzaufbereitungsanlage noch einen Abnehmer gegeben hat. Vielmehr habe die Zapata AG Maschinen und Schrott aus einem zu Proksch gehörenden Kohlekraftwerk verladen. Die BL-V verweigert die Zahlung der Versicherungssumme.
Im Waldviertel dämmert es. Pretterebner hat noch einmal Kaffee gemacht, holt aus dem Schreibtisch eine neue Packung Zigaretten. Er sagt, man müsse verstehen, in welcher Zeit der Fall Lucona spielte. 1970er Jahre. Kalter Krieg. Öster?reich ist ein neutraler Kleinstaat an der Nahtstelle zwischen Nato und Warschauer Pakt. In Wien operieren Tausende Spione und Waffenhändler, die das Gesetz nicht fürchten müssen. Strafbar ist nur Aktivität, die sich gegen österreichische Interessen richtet. Kanzler Kreisky kungelt mit PLO-Chef Jassir Arafat. Die Minister Gratz, Blecha und Lütgendorf sind in die illegale Lieferung von Artilleriegeschützen in den Iran und Irak involviert. Proksch werden Kontakte zu KGB, CIA, BND, Stasi und der italienischen Mafia nachgesagt. Er besitzt ein Dauervisum für die UdSSR, ist bekannt mit dem König von Jordanien und Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi, mit Imelda Marcos, der First Lady der Philippinen, hat er eine Affäre. Proksch hat auch Kontakt mit dem später ermordeten Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Es geht um die Beschaffung von Kriegsschiffen.
Textauszug. Den gesamten Beitrag lesen Sie in mare No. 84.