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Du musst draußen bleiben - Christ und Welt

Der Zug hält an der Grenze bei Gerstungen. Mit Röntgenaugen, so scheint es, durchleuchtet der Beamte Ebels Identitätsbescheinigung, untersucht minutenlang jeden Millimeter des Dokuments. Joachim Ebel* weiß, dass ihm eigentlich nichts passieren kann. Schließlich hat die DDR ihm und seiner Familie die Ausreise offiziell bewilligt. Aber was, wenn auf den letzten Metern doch noch etwas schiefgeht? Die Stasi weiß nur zu gut, dass er kein regimetreuer Pfarrer ist. Werden er und seine Frau ins Gefängnis kommen? Wird man die drei Kinder ins Heim stecken? Endlich. Der Beamte gibt den Schein zurück, die Kontrollen der Bundesrepublik verlaufen unproblematisch. Plötzlich erfasst Joachim Ebel eine ungeheure Euphorie. Als der Zug in Bebra hält, springt er auf den Bahnsteig und schreit: „Jetzt sind wir frei!" „Diese Last, die da plötzlich von mir abfiel, als wir am 30. April 89 rausdurften - das ist einfach unbeschreiblich", sagt Pfarrer Ebel heute. Noch immer ist ihm die Freude von damals anzumerken. „Da wusste ich aber noch nicht, dass das eigentliche Loch noch kommt", sagt er. „Das eigentliche Loch" besteht für Ebel aus Arbeitslosigkeit, Depressionen und Geldsorgen. Obwohl ein halbes Jahr nach seiner Ausreise die Mauer fällt, dauert es fast fünfeinhalb Jahre, bis er eine Gemeinde bekommt. Der Grund für diese Schwierigkeiten ist ein Abkommen, an das sich die evangelische Kirche ungern erinnert. Abgeschlossen wurde es zwischen den Landeskirchen im Osten und denen im Westen: Es legte zum einen fest, dass DDR-Pfarrer, die in den Westen gingen, ihre Ordinationsrechte verloren. Zum anderen durften die Kirchenleitungen im Westen die Anträge dieser Geistlichen auf neue Pfarrstellen frühestens nach zwei Jahren prüfen. Eine Anstellung war nur möglich, wenn es die zuständige Landeskirche im Osten erlaubte. In der katholischen Kirche gab es weniger Probleme beim Wechsel von Ost nach West, weil die politisch geteilten Bistümer an ihrer kirchenjuridischen Einheit festhielten. Fragt man heute Mitarbeiter aus den damaligen Personalabteilungen der West-Landeskirchen nach den Hintergründen, bekommt man zur Antwort: Man habe der „Verlockung des Westens nicht Tür und Tor öffnen" wollen. Aufgrund von Pfarrermangel hätten die Brüder im Osten dringend Unterstützung gegen das Regime benötigt. Außerdem habe jeder gewusst, was ihm passiere, wenn er die in der Ordination versprochene Loyalität zu seiner Kirche aufkündige. Für Joachim Ebel sind solche Sätze nicht nachvollziehbar. „Die wenigen, die überhaupt aus der DDR rauskonnten, sind gegangen, weil sie keine andere Möglichkeit mehr sahen." Besonders regt ihn die theologische Begründung der Regelung auf: „Es hieß immer: ,Wer geht, ist ein Mietling!' - also einer, der nur wegen des Geldes Pfarrer ist -, weil es im Johannesevangelium heißt ,Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber sieht den Wolf und flieht.' Man kann sich gar nicht vorstellen, wie vernagelt wir waren, uns so was einreden zu lassen", sagt Ebel. Erst mit der Ausreise sei ihm bewusst geworden, dass jeder Pfarrer von Zeit zu Zeit seine Gemeinde verlässt und die Pfarrstelle wechselt, damit sich keine verkrusteten Strukturen bilden. Als „Scheidung" bezeichnet Ebel seine Ausreise. Wenn er abends am Esstisch sitzt und sich die Butter dick auf sein geliebtes sächsisches Sauerteigbrot schmiert, sagt er manchmal zu seiner Frau: „Und du bist schuld!" Joachim Ebel lacht, wenn er das sagt. Es soll flapsig klingen. Seine Frau Margit, die mit ihren rosigen runden Wangen sehr mütterlich wirkt, lächelt gequält. Wäre sie nicht krank gewesen, hätte ihr Mann niemals einen Ausreiseantrag gestellt, das weiß sie. Sie hatte Schilddrüsenprobleme, die falsch behandelt wurden. Die Familie hatte sehr unter dem Regime zu leiden: Stasi-Beobachtung - Ebels gesamtes Haus ist verwanzt, ein Nachbar hat eine Kamera installiert; Demütigung der Kinder - die beiden Töchter gewinnen beim Sportwettkampf, bei der Siegerehrung stehen andere auf dem Treppchen; als Pfarrerskinder hätten sie nicht studieren dürfen. Dann die Behinderung der Gemeindearbeit: Als sich Ebel in einem Neubaugebiet bei den Zugezogenen vorstellen will, hat die Stasi dafür gesorgt, dass ihm keiner die Tür aufmacht. Ebel bekommt Magengeschwüre und Rückenschmerzen. Trotzdem will er nicht weg. „Mir war klar, wie wichtig es ist, dass in diesem atheistischen Staat Kirche lebt und leben kann. Und dazu braucht es Pfarrer", sagt er. Im Winter 1988 verschlechtert sich Margit Ebels Zustand: Sie findet keine Arbeit, Selbstmordgedanken quälen sie. Das Wort „Ausreise" fällt in den gemeinsamen Gesprächen immer öfter. „Wir wussten, dass es für mich schwierig werden würde, eine Anstellung als Pfarrer zu finden", sagt Ebel. „Aber dass ich als studierter Theologe auch in anderen Positionen keine Chance bekommen würde, war mir nicht bewusst." Im Westen angekommen, wohnt die Familie zunächst zehn Tage in Auffanglagern. Joachim Ebel trampt sofort zum nächsten Landeskirchenamt, um sich zu melden. Doch man macht ihm klar, dass er mit einer Anstellung nicht zu rechnen habe. Trotzdem schickt er wenige Tage später Bewerbungsunterlagen an das Amt. Er bekommt keine Antwort. Die Stadt weist der Familie zwei Zimmer in einem Gasthof zu. Margit Ebel versucht mit Putzjobs ein wenig Geld zu verdienen, die Kinder kämpfen mit dem Schulsystem. Jens wird die Klasse wiederholen müssen. Mit Pinguin- und Pferdepostern für Luisa und Jens und „Knight Rider" für die 13-jährige Carina versuchen sie, das Zimmer der Kinder wenigstens ein bisschen gemütlicher zu machen. Als es den Eltern einmal nicht gelingt, die Tränen vor den Kindern zu verbergen, schenkt der Sohn ihnen ein selbst gebasteltes Mobile mit den Jüngern beim Fischen. Ausgeblichen hängt es heute an der Deckenlampe in Margit Ebels Arbeitszimmer. Im Sommer 89 verschreibt die Hausärztin eine Familienkur auf Borkum. In Margit Ebels Gesicht kehrt ein wenig Farbe zurück. Außerdem erhalten sie nun ein eingeschränktes Arbeitslosengeld und können in eine kleine Wohnung ziehen. Die Unterstützung, die sie bei den Kirchenoberen so vermissen, bekommen sie umso mehr von der Gemeinde vor Ort: Geschirr, Betten, den Mut, nicht aufzugeben. Im September wendet Ebel sich an den Landesbischof: „Ich denke, dass ich mich in vieles einarbeiten kann. Es geht mir nicht darum, wie ein Pfarrer angestellt und bezahlt zu werden. Pfarrer möchte ich natürlich nach drei Jahren wieder sein. Aber ich habe eine Familie und muss sie ernähren. Welche Möglichkeiten sehen Sie?" Erst im November 89, nach einer weiteren Anfrage, erhält Ebel eine Antwort. Man könne nichts tun, er solle sich bei Sozialstationen vorstellen. Jedoch auch das ist aussichtslos: Schon im August hatte sich Ebel bei einer Waisenhaus-Stiftung beworben. Erfolglos. Weil er keine Qualifikation als Erzieher nachweisen kann. Langsam fressen sich graue Strähnen in die schwarzen Haare des 38-Jährigen. Kurz vor dem Jahreswechsel 89/90 erreicht Ebel ein Gespräch beim Landesbischof. „Freundlich, aber negativ", notiert er hinterher für sich in den Unterlagen. Gleichzeitig bittet er im Osten um seine Ordinationsrechte. Über die „Wiederbeilegung der Ordinationsrechte" könne nur entschieden werden, wenn eine westliche Landeskirche eine Pfarrstelle anböte, schreibt ihm die Zuständige. Sie empfiehlt eine Bewerbung im Osten. Das sei ja jetzt wieder möglich. Ebel überlegt. Zurückgehen? Dorthin, wo manche ihn seit der Ausreise als Verräter bezeichnen? Gerade hat sich seine Frau erholt und eine Stelle als Hausmutter in einem Mädchenheim gefunden; Carina hat Englisch nachgeholt. Zurückgehen? Das kann er seiner Familie nicht antun. Im Frühjahr 1990 endlich ein Lichtblick: Ebel darf den Religionsunterricht eines kranken Pfarrers vertretungsweise übernehmen. Als er jedoch um Vergütung bittet, weist ihn der Schuldekan darauf hin, dass Religionsunterricht an die Vocatio gebunden sei. Diese besitze er nicht und ein amtsärztliches Zeugnis könne er auch nicht vorweisen. Am 9. Mai teilt der Rektor der Schule den Eltern mit, dass ab sofort keine Lehrkraft mehr für den evangelischen Religionsunterricht zur Verfügung stehe. „Wenn ich nicht gewusst hätte, dass Joachim auf jeden Fall wieder Pfarrer sein möchte, wäre ich aus der Kirche ausgetreten", sagt Margit Ebel rückblickend. Wieder schreibt Ebel an das Landeskirchenamt: „Wenn Sie im Westen mich mit Rücksicht auf den Osten nicht einstellen können, aber andererseits die östliche Landeskirche mich nur freigeben kann, wenn Sie bereit wären, mich einzustellen, müsste es doch eine Lösungsmöglichkeit nach den neuen politischen Gegebenheiten in Deutschland geben." Vier Monate später, im Juli 1990, bekommt Ebel ein Schreiben aus der Kirchenrechtsabteilung: „Die Landeskirche hat kein Interesse daran, wegen einer Wiederbeilegung Ihrer Ordinationsrechte im Osten nachzusuchen. Die Krankheit Ihrer Frau bedauern wir sehr. Die Tatsache, dass sich Ihre Familie hier befindet, liegt jedoch nicht in unserer Verantwortung, sondern allein in der Ihren." Auch diesmal ist es die Gemeinde vor Ort, die Ebel, der nach einem Jahr Arbeitslosigkeit eine Umschulung begonnen hat, beisteht: Heimlich bittet sie das Landeskirchenamt, Ebels „Berufsverbot" aufzuheben. Zwar bekommt nun Ebel - den man als Anstifter vermutet - einen bitterbösen Brief, dass von „Berufsverbot" ja wohl keine Rede sei, aber dann geschieht das Unglaubliche: Die Landeskirche erlaubt Ebel, vertretungsweise zu predigen, trotz der fehlenden Ordinationsrechte. Jeden Sonntag fährt Ebel nun kilometerweit über die Landstraßen und predigt, wo er gebraucht wird. Er geht so sehr darin auf, dass ein Mitglied des Landeskirchenrates von der Begeisterung der Gottesdienstbesucher erfährt. „Das war mein Glück", sagt Ebel. „Dieser Pfarrer wurde mein Fürsprecher. Wer weiß, wann ich sonst wieder eine Gemeinde bekommen hätte." Im März 1993, vier Jahre nach der Ausreise, findet Margit Ebel im Briefkasten eine Vorladung ins Landeskirchenamt. Ihr Mann wohnt mittlerweile 70 Kilometer entfernt, weil er eine Erzieherstelle im Schichtdienst gefunden hat. Mit 160 Stundenkilometern rast sie über die Autobahn, um ihm die Nachricht überbringen zu können. Das Landeskirchenamt verlangt von ihm ein halbes Jahr Praktikum, zwei ausgearbeitete Predigten und eine mündliche Prüfung. Doch selbst das akzeptiert Ebel widerspruchslos. Die Schichtarbeit als Erzieher zermürbt ihn. Als Ebel zum 1. August 1994 eine Pfarrstelle in Aussicht hat, gibt Margit Ebel ein ganzes Monatsgehalt aus, um mit ihrem Mann und den Kindern in einem Restaurant zu feiern. Das erfreuliche Ende einer schlimmen Geschichte? Ja und nein: Zurzeit wohnen Herr und Frau Ebel in einem wunderschönen Pfarrhaus, Schwanenküken laufen durch den Garten. Aber morgens nimmt Ebel auch weiterhin seine Tabletten. Gegen die Depressionen, die er seit seiner Zeit als Erzieher im Schichtdienst hat. Die älteste Tochter hat den Kontakt zu den Eltern abgebrochen und ist aus der Kirche ausgetreten. „Ich konnte nicht ertragen, was sie dir angetan haben", hat sie ihrem Vater gesagt. *Alle Namen von der Redaktion geändert

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