Gut ausgebildete Albaner zieht es nach Deutschland. Die bayerische Wirtschaft wirbt gezielt junge Menschen ab. Doch die Regierung in Tirana macht ihnen den Exodus madig.
Im Büro von Donatela Sadriaj hängt ein Bild von Schloss Neuschwanstein. Auch wenn man noch nie im Süden Bayerns war, hat man das Gefühl, dieses Idyll schon einmal gesehen zu haben. Sadriaj, 30, gebürtig aus Albanien, hilft einem lächelnd auf die Sprünge: "Aus dem Intro von Walt Disney."
In Sadriajs Büro präsentiert sich Bayern von seiner märchenhaften Seite, auch wenn Neuschwanstein nicht unbedingt gleich Disneyland ist. Aber hier geht es auch nicht darum, Touristen anzuwerben, sondern Fachkräfte. Bayerns Wirtschaft fehlt über alle Branchen hinweg mehr als eine Viertelmillion Arbeitskräfte. "Die am meisten benötigten Stellen sind Lkw-Fahrer und Logistiker, Bauingenieure, Elektriker, Lehrerinnen, Pfleger und IT-Fachkräfte", zählt Sadriaj auf. Einen Teil davon hofft ihr Arbeitgeber, die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, kurz vbw, in Albanien zu finden, einem Land auf dem Balkan, das flächenmäßig kleiner als Brandenburg ist. Doch dort ist man nicht begeistert von den Abwerbeversuchen der Deutschen. Die Regierung des Landes geht nun sogar dagegen vor.
Die vbw hat ein Auslandsbüro in Brüssel, in New York und seit wenigen Monaten auch in Tirana, einer Stadt, die lange kein funktionierendes Adressenwesen hatte. Trifft man sich, dann schickt man den WhatsApp-Status der nächstgelegenen Bar. Oder im Falle der Bayern: den Standort eines Hotels, das im Erdgeschoss des Gebäudes liegt.
Drei Gehminuten vom Büro entfernt liegt die Pyramide. Dieser etwas obskure Bau wurde einst zu Ehren von Albaniens sozialistischem Diktator Enver Hoxha errichtet, der das Land vier Jahrzehnte von der Außenwelt abkapselte. Abwanderung stand damals unter Strafe, heute ist es zum Massentrend geworden.
"Spitzenreiter in Sachen Migration"
Aus keinem Land auf dem Balkan sind so viele Menschen emigriert wie aus Albanien. Seit dem Ende der Diktatur 1991 haben 1,6 Millionen Menschen das Land verlassen, was der Hälfte der Bevölkerung entspricht. "Wir gehören weltweit zu den Spitzenreitern in Sachen Migration", sagt Ilir Gëdeshi, der am Zentrum für Wirtschafts- und Sozialstudien in Tirana forscht. In den Neunzigerjahren, erklärt er, war die Auswanderung vor allem ökonomisch motiviert. Hunderttausende Männer gingen nach Italien und Griechenland, um auf dem Bau oder in der Gastronomie zu arbeiten. Seit der Finanzkrise von 2008 steht ein anderes Land hoch im Kurs: Deutschland. "Anders als noch vor 30 Jahren wandert mittlerweile auch die Mittelschicht aus. Die Besten gehen weg, vor allem Ärzte", sagt Gëdeshi.
Deutschland profitiert von diesem Trend. "Die Angehörigen der Westbalkanstaaten, darunter auch Albanien, leisten einen wichtigen Beitrag zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs in Deutschland", heißt es auf Anfrage aus dem deutschen Arbeitsministerium. Schließlich warnt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD), dass deutschlandweit bis 2030 eine Lücke von rund vier Millionen Erwerbstätigen entsteht, wenn nicht mehr Menschen aus dem Ausland kommen.
In Albanien hat die Abwanderung jedoch starke Auswirkungen. Jeder und jede kennt jemanden, der oder die bereits im Ausland lebt. Krankenhäuser auf dem Land suchen händeringend Fachpersonal, Restaurants an der Küste nach Kellnern. Nichts aber zeigt die Abwanderung so deutlich wie die Debatte um den Zensus.
Offiziell beträgt die Bevölkerung Albaniens 2,8 Millionen (PDF) Menschen, doch die Zahl ist längst nicht mehr aktuell, weil die letzte Erhebung zwölf Jahre zurückliegt. 2023 wurde neu gezählt, aber Instat, die nationale Statistikbehörde, hat die Zahlen noch nicht veröffentlicht. Das gibt Anlass zu Spekulationen. Die einen vermuten, dass sich die Bevölkerung des Landes nahezu halbiert haben könnte, die anderen, dass die Regierung den Zensus bewusst unter Verschluss hält. Für beides gibt es keine Belege.
"Wir zwingen niemanden zu gehen"
Sicher ist: Die Entwicklung bringt nicht nur die albanische Regierung in Erklärungsnot, sondern auch Deutschland. Darf ein so reiches Land einem so armen Land massenhaft die Arbeitskräfte wegnehmen?
"Wir zwingen niemanden zu gehen", sagt Donatela Sadriaj, die Chefin des Büros der Bayerischen Wirtschaftsvereinigung. Die Menschen verließen Albanien ohnehin, meint sie, und ihr Büro zeige ihnen dabei legale Wege auf. Mithilfe einer Datenbank werden die Unternehmen in Bayern mit Interessenten in Albanien verbunden.
Profitiert hat zum Beispiel Peter Lehner, der Chef eines Betriebes aus der Oberpfalz, der Elektroinstallationen für Gewerbe- und Industriebauten montiert. Lehner war monatelang auf der Suche nach einem Elektriker, fand aber keinen, weil "immer weniger ein Handwerk erlernen", wie er sagt. Sadriaj hat ihm einen Mitarbeiter vermittelt, der in Albanien für ein Wasserkraftwerk gearbeitet hat. Er passe gut ins Team, meint Lehner, denn 60 Prozent seiner Mitarbeiter hätten Migrationshintergrund.
Im Gegenzug will die vbw Albanien etwas zurückgeben. "Wir tun viel mehr, als nur Fachkräfte abzuwerben. Wir beraten auch deutsche Firmen, die in Albanien investieren wollen, und wir starten gerade ein Programm, um Berufsschulen zu unterstützen", sagt Sadriaj. Aber reicht das aus?
Mit 10.000 Euro freikaufen
An den Schulen und Universitäten ist längst ein Kampf zwischen der Regierung und der jungen Generation ausgebrochen. Weil so viele nach absolvierter Ausbildung nach Deutschland gehen, hat Albaniens Ministerpräsident Edi Rama im vergangenen Jahr ein umstrittenes Gesetz angekündigt. Studierende der Medizin sollen dazu verpflichtet werden, nach dem Studium bis zu fünf Jahre in Albanien zu bleiben. Wer trotzdem geht, muss sich freikaufen, und zwar je nach absolvierten Semestern mit bis zu 10.000 Euro insgesamt.
"Niemand hat so viel Geld. Nur Studierende aus reichen Familien werden diese Summe bezahlen können", sagt Dea Guri. Die 24-jährige Medizinstudentin ist im letzten Semester und die Anführerin der Proteste. Im weißen Kittel und mit Megafon in der Hand hat sie sich immer wieder gegen das Vorhaben der Regierung gestellt. Jetzt, an einem frühlingshaft warmen Dienstag im Februar, herrscht Ruhe am Campus. Der Verfassungsgerichtshof hat die Regierung angewiesen, den Gesetzesvorschlag zu überarbeiten. Gut möglich, dass aus fünf nur zwei Jahre werden. Aber auch das ist den Studierenden zu viel.
"Ja, viele junge Menschen verlassen Albanien, aber dieses Gesetz ist nicht der richtige Weg, um uns hierzubehalten", sagt Guri. "Es erinnert mich an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte, als wir hier Kommunismus hatten." Sie sitzt in einem leeren Klassenzimmer, Neonröhren an der Decke, schmale Pulte aus Holz, ein graues Plakat über Stammzellen an der Wand. Die medizinische Fakultät in Tirana ist die größte des Landes. Etwa 2.200 Menschen studieren hier jedes Jahr, erzählt Guri, mehr als an jeder Privatuniversität. Guri bezahlt 400 Euro Studiengebühren pro Jahr. Der Rest wird von der öffentlichen Hand getragen.
Premier Edi Rama, seit über zehn Jahren an der Macht, nutzt das als Druckmittel: "Wie kommen die Steuerzahler dazu, Studierenden die Ausbildung zu bezahlen, wenn diese nach Deutschland verschwinden, sobald sie ihr Diplom erhalten?" Dazu muss man sich klarmachen, dass die Ärztedichte in Albanien zu den niedrigsten in ganz Europa gehört. Auf 10.000 Einwohner kamen im Jahr 2020 nur 19 Ärzte. In Deutschland sind es mehr als doppelt so viele. Der Migrationsforscher Ilir Gëdeshi warnte bereits im November 2020 in einer mit der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Studie (PDF): "Die Zahl derjenigen, die jedes Jahr aus Albanien auswandern, ist gleich groß oder sogar größer als die Zahl neuer Ärzte, die an der Medizinischen Universität ihren Abschluss machen."
Rama, dessen Sozialistische Partei mit absoluter Mehrheit regiert, hat solche Warnungen jahrelang ignoriert. Im März 2023 legte der Ministerpräsident aber einen Kurswechsel hin. "Der albanische Staat finanziert seine Studenten nicht für das deutsche Gesundheitssystem", stellte er in einer Rede klar, die viel Aufsehen erregte. Doch anstatt, wie von Experten gefordert (PDF), Länder in die Pflicht zu nehmen, die am meisten von der Abwanderung profitieren, wälzte Rama die Verantwortung auf die Studierenden ab. Rama spricht von einer "humanen und patriotischen" Verpflichtung, die man seinen Landsleuten gewissermaßen schulde.
Die Studierenden jedoch haben für diese Haltung kein Verständnis. "Er spricht über uns, als wären wir Soldatinnen. Wer nach Deutschland geht, wird als Verräter dargestellt", sagt Dea Guri. Wird sie die Strafe bezahlen? "Ich will gar nicht gehen. Ich liebe Albanien mehr, als ich ausdrücken kann, und ich werde hierbleiben", sagt sie. Guri protestiert weiter, denn sie will, dass andere die Wahl haben.
Menschen wie Izabela Kume. Die 19-Jährige sagt: "Ich gehe schon jetzt, denn ich will verhindern, dass ich später jahrelang hierbleiben muss." Ob sie Krankenpflegerin oder Assistentin in einer Zahnarztpraxis werden will, weiß sie noch nicht, aber ihr zukünftiger Wohnort steht bereits fest: Mönchengladbach. Ein Zungenbrecher zwar, sagt Kume, aber ein Ort mit schöner Natur und sauberen Straßen.
Kume, groß gewachsen, lange, dunkle Locken, steht am Balkon des Goethe-Instituts, einer dreistöckigen Villa nahe der deutschen Botschaft. In ein paar Monaten wird sie dort ein Studierendenvisum beantragen. Das Auswärtige Amt spricht auf Anfrage von "einem signifikanten Anstieg" bei der Visastelle in Tirana. In den vergangenen zehn Jahren wurden über 63.700 Visa an Albanerinnen und Albaner ausgestellt, davon über 38.000 zum Zweck der Erwerbstätigkeit.
Izabela hat im Schnellverfahren Deutsch gelernt. Jetzt, nach nur sechs Monaten, kann sie die Sprache so gut, dass sie das Interview auf Deutsch hält. Ihre Mutter, eine Verkäuferin, ist nicht sonderlich begeistert davon, dass ihre Tochter geht. "Sie sagt mir, dass ich ja auch hier studieren und arbeiten kann. Aber in Deutschland ist die Lebensqualität viel besser und vor allem der Sozialstaat. Wenn ich in Albanien krank werde, kann es passieren, dass ich lange warten oder Schmiergeld an die Ärzte zahlen muss", sagt sie.
Albaniens Regierung versucht, junge Menschen vom Bleiben zu überzeugen, zum Beispiel mit staatlich subventionierten Wohnbaudarlehen ohne Zinsen für bestimmte Berufe, darunter Polizisten, Ärztinnen oder Soldaten. In einer Rede warnte Edi Rama seine Landsleute davor, Deutschland zu romantisieren. Es sei schwer, dort über die Runden zu kommen, und der Kaffee schmecke "wie Kastaniensaft".
Izabela kann darüber nur lachen, außerdem ist es ihr auch egal, weil sie gar keinen Kaffee trinkt.