Reinhard Haller ist Psychiater, Neurologe, Sachbuchautor und Gerichtsgutachter. Er hat zahlreiche Schwerverbrecher untersucht, darunter Josef Fritzl, Jack Unterweger und den Amokläufer von Winnenden. Warum Ausdauersportler keine Schwerverbrecher sind, verrät er in diesem Interview.
Als Arzt oder Gerichtspsychiater stellen üblicherweise Sie die Fragen. Für ALPIN tauschen wir heute die Rollen. Erste Frage also: Wer sind Sie und was machen Sie?
❞ Ich heiße Reinhard Haller und bin nach wie vor Psychiater, wofür ich mich immer entschuldige, weil das ja ein angsteinflößender Beruf ist. Für mich aber der schönste der Welt: Ich bin therapeutisch tätig, gutachterlich und schriftstellerisch.
Warum haben Sie diesen Beruf gewählt?
❞ Als kleines Kind wollte ich nicht Lokomotivführer werden, sondern Priester im Allgemeinen und Papst im Speziellen. Später dann Rechtsanwalt, das war über viele Jahre mein Berufswunsch. Um die 18 herum hab ich so Anwandlungen bekommen, Schriftsteller zu werden, und hab mir überlegt, es gibt nur einen Beruf, der alle diese Funktionen in sich vereinigt, und das ist der des Psychiaters.
Sie sagen, dass unter 400 von Ihnen untersuchten Mördern und Schwerverbrechern kein einziger gewesen sei, der Ausdauersportarten wie Wandern ausübte. Wie erklären Sie das?
❞ Wandern hat sehr viele positive Auswirkungen. Wenn man eine Tablette erfinden würde, die alle Funktionen von regelmäßigem Wandern beinhaltete, wäre das der Megaseller, das würde sich besser verkaufen als Covid-Spritzen und sogar besser als ein Anti-Krebs-Medikament. Im Wandern werden viele psychotherapeutische Funktionen erfüllt.
Welche sind das?
❞ Da sind erst mal die körperlichen Auswirkungen des Wanderns, die inzwischen gut erforscht sind, es wirkt fettstoffwechselsenkend, blutzuckerregulierend, durchblutungsfördernd und herzmuskelstärkend. Wandern wirkt wie eine Atemtherapie, was ja schon für sich eine erfolgreiche Methode ist. Auf der psychologischen Ebene wirkt es antidemenziell und antidepressiv. Menschen, die viel wandern, haben eine viel niedrigere Suizidrate. Und Suchtgefährdete, die eine Wandertherapie machen, haben eine niedrigere Rückfallrate. Es hat einen hervorragenden präventiven Effekt bei leichten und mittelstarken Depressionen oder beim Burn-out. Die Ergebnisse hier sind eindrucksvoll. Es hilft, Aggressionen abzubauen, denn durch die Bewegung und Anstrengung wird viel vom inneren Aggressionspotenzial positiv umgesetzt. Tatsächlich habe ich bei zahlreichen untersuchten Gewaltverbrechern wie Mördern, Totschlägern, Vergewaltigern und Profi-Einbrechern beobachtet, dass es kaum einen gegeben hat, der wirklich regelmäßig Ausdauersport betrieben hat.
Zu den Auswirkungen von Ausdauersport existieren vielfache Forschungsergebnisse. Gibt es Hinweise auf Veränderungen in den Hirnarealen, die bei Kriminellen auffällig sind?
❞ Das ist jetzt noch mal eine andere Frage: Wo ist das Böse zu Hause? Es ist natürlich in jedem von uns. Jeder Mensch hat gute und böse Anteile und bei jedem sind die Umstände etwas anders. Natürlich haben dabei auch das Gehirn, sein Aufbau und seine Funktion einen gewissen Einfluss. Beim Wandern werden, ebenso wie beim Schwimmen, Fahrradfahren oder Langlaufen, bestimmte Hirnareale aktiviert, die für den Lustgewinn verantwortlich sind. Man hat zudem Veränderungen an den wichtigen Überträgerstoffen Serotonin und Dopamin beobachtet. Aber da steht die Hirnforschung noch ganz am Anfang.
Salopp gefragt: Sind Wanderer also die besseren Menschen?
❞ Das würde ich so jetzt nicht sagen, aber durch Wandern wird man insgesamt zu einem gesünderen Menschen.
Warum beschäftigen Sie sich persönlich so viel mit dem Thema Wandern?
❞ Weil ich es einfach am besten kenne. Und auch, weil es die meisten Menschen ausüben können. Meine Beobachtung ist, auch in der Therapie, dass Wandern für viele Menschen sehr unterstützend war. Dieser Run auf den Jakobsweg spricht ja für sich, das ist nicht nur ein Boom, denn das geht ja schon 20 Jahre. Nicht weil die Menschen plötzlich so religiös geworden sind, sondern weil langes ausdauerndes Gehen etwas Positives mit ihnen macht.
Sie haben als Chefarzt gut 30 Jahre lang eine Entzugsklinik in Vorarlberg geleitet. Wie bewerten Sie Aktiv-Therapien, die Drogenabhängige zum Wandern schicken? Läuft man hier nicht Gefahr, die eine Sucht durch eine andere zu ersetzen?
❞ Nein, denn man ersetzt hier eine böse Sucht durch eine sogenannte gute Sucht, die vieles bewirken kann: Das Gehen unter Anstrengung ist schon wie eine Atemtherapie, auch eine Körpertherapie, da man beginnt, sich wieder stärker zu spüren. Wenn Sie auf die Tschaggunser Mittagsspitze oder auf das Fellimännle steigen, Berge meiner Heimat, dann spüren Sie nachher Ihre Beine und die Atmung. Das tun Drogenabhängige oft nicht mehr aufgrund einer möglicherweise gestörten Körperwahrnehmung. Daneben führt der Endorphinanstieg dazu, dass körpereigene Morphine aktiviert werden und Süchtige dadurch einen ähnlichen Effekt erleben, wie sie ihn in viel stärkerer Dosierung mit Heroin haben. Tatsächlich kann es manchmal einen süchtigen Charakter annehmen, wenn man das Jogger-High immer wieder sucht – aber das ist eine gute Sucht. Beim Wandern ist das Süchtigwerden letztlich auch in sich selbst limitiert, spätestens nach zwölf Stunden (Wandern) ist ja Schluss mit der Dosissteigerung. Am Berg hat man aufgrund der Höhe auch eine Licht- und Farbtherapie …
Wie beim Greenness-Faktor, der belegt, dass sich Pflanzengrün positiv auswirkt?
❞ Genau. Dazu bringt Wandern eine Art von Psychohygiene mit sich, denn man geht beim Gehen in einen inneren Dialog und führt ein Gespräch mit sich selbst, das hat einen meditativen Effekt. Und durch Meditation und Rhythmisierung entsteht eine eigenartige konzentrative Entspannung, so nenn ich das immer, weil ich muss ja jeden Schritt gut setzen, und trotzdem läuft es automatisch ab. Es ist also auch ein Wandern nach innen. Und es vermittelt ein Gefühl der Selbstsicherheit, denn wenn man einen Berg bestiegen hat und acht Stunden gewandert ist, ist man schon auch stolz, das gibt Selbstbewusstsein. Und es führt zum Ziel jeglicher Psychotherapie: Gelassenheit.
Dazu kommt: Auch wenn man Depressionen und Burn-out in der Akutphase medikamentös behandeln kann: Die Wirkung der Natur lässt sich nicht ersetzen. Was kann der Berg, das Medizin nicht kann?
❞ Wenn ich auf einem Berg steh’ und die Menschen unten nicht mehr sehen kann, die mir das Leben zur Hölle machen, die mich kränken und beleidigen und unterjochen, dann verschieben sich die Proportionen und Dimensionen. Die Menschen sind dann nicht einmal mehr ameisengroß, und die Häuser, in denen sich die Dramen abspielen, erscheinen maximal wie kleine Spielzeuge, die man von oben mit Gelassenheit betrachten kann. Drum mag ich das Wandern auch so gern, weil es einen buchstäblich auf einen anderen ,Standpunkt‘ bringt. Bei vielen psychischen Problemen ist ja die Schwierigkeit, dass man verharrt, grübelt und sich zermürbt, und über dieselben Probleme fast zwanghaft immer wieder nachdenken muss. Wenn man dann einen Blick von außen bekommt, und das ist beim Wandern fast zwangsläufig gegeben, sehen die Dinge oft ganz anders aus. Nebenbei hat es einen euphorisierenden Effekt, weil es tatsächlich zu einem Anstieg der körpereigenen Opiate kommt, der sogenannten Endorphine.
Ein körpereigenes Belohnungssystem?
❞ Genau. Wenn ich wandere, steigert das meine Selbstwertschätzung, weil ich etwas geleistet und meinen inneren Schweinehund überwunden habe, was wie gesagt zu mehr Gelassenheit führt. Insofern ist Wandern auch ein Stück weit antinarzisstisch. Weil man in der Natur unter den mächtigen Bergen merkt, dass man selbst doch nicht der Größte, Beste, Schönste, Allmächtigste ist, sondern dass es ganz andere Kräfte gibt, die einen demütig werden lassen. Das kommt beim Bergwandern ja noch dazu.
Eine Nachfrage beim DAV zeigt: Es gibt wenig kriminelle Störfälle oder gar Kriminal- Statistiken trotz der großen Zahl an Menschen, die ins Gebirge gehen.
❞ Das ist eben das Problem, dass es für diesen Bereich, über den wir sprechen, relativ wenige wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Ich habe mich im Laufe meines beruflichen Lebens häufig auf Phänomene konzentriert, für die es wenig wissenschaftliche Basis gibt, wie die Macht der Kränkung zum Beispiel, darüber habe ich viel geschrieben. Aktuell arbeite ich an einem Buch übers Wandern. Dabei greife ich weniger auf wissenschaftliche Daten als auf meine eigenen Beobachtungen zurück, die ich in meiner 40-jährigen Tätigkeit aufgezeichnet habe. Offensichtlich ist: Wer den ganzen Tag im Büro sitzt und nicht körperlich arbeitet, bekommt eher einen Aggressionsstau. Beim Wandern werden buchstäblich schrittweise Aggressionen abgebaut.
Sie stammen aus Vorarlberg, also aus den Bergen. Gehen Sie häufig Wandern?
❞ Ich bin zwar beruflich als Gutachter, Sachbuchautor und Vortragender immer noch sehr aktiv, aber eines hab ich wirklich konsequent gemacht: Ich habe mich einer Wandergruppe angeschlossen und ziehe ein Mal pro Woche los, auch bei Schlechtwetter. Das hat für mich und meine Kollegen einen sehr guten Effekt. Man fühlt sich jünger, besser gestimmt. Und ich möchte ja den Menschen etwas vermitteln, das leicht umzusetzen ist, das auch die breite Gesellschaft akzeptiert. Es hilft ja nichts, wenn ich irgendwelche Tagungen und Superkliniken empfehle, wo man drei Wochen ein sehr teures Training macht, das kommt ja nur einer kleinen Minderheit zugute. Nicht zuletzt durch Corona ist ein starker Wanderboom eingetreten, das ist deutlich. In meinen Augen ist das so eine Art Selbsttherapie, auch gegen die psychischen Belastungen. Zudem bekämpft man damit Übergewicht, Haltungsschäden und, wie gesagt, den Aggressionsstau. Zurück zur Frage: Ich wohne am Waldesrand, sehr privilegiert, und nochdazu an einem europäischen Fernwanderweg, der 20 Meter hinter meinem Haus verläuft. Und oben am Berg, hinter der letzten Bergstation, dem letzten Gasthaus und der letzten Hütte, findet sich noch immer totale Einsamkeit, auch in dicht bevölkerten Regionen.
Klettern Sie auch?
❞ Eher nein. Ich denke, dazu bin ich zu ängstlich. Vielleicht wäre ich auch zu ungeschickt? Aber ich habe, ganz ehrlich, auch schlichtweg Angst davor und als Arzt natürlich zu viel von dem gesehen, was da alles passieren kann.
Sie sprechen vom Gebirge als „Seelenlandschaft“. Was bedeutet das?
❞ Dass Landschaften einen prägenden Eindruck auf unser Gemüt haben, ist unbestreitbar. Es gibt den Begriff der Psychogeografie, die genau das hinterfragt: Welchen Einfluss haben Landschaften oder ein Gebäude auf die Gemütslage des Menschen? Der frühere Tiroler Bischof Reinhold Stecher war ein echter Bergfex. Er hat sehr schöne Sachen bezüglich Psychogeografie geschrieben. Und mit Bergen ist das bei jedem Menschen anders: Den einen bedrücken sie, den anderen befreien sie. Ein Beispiel: Lech am Arlberg ist ein sehr schöner Ort mit dem Omeshorn, so heißt der Hausberg. Es wirkt wie eine Mutter mit wallendem Gewand. Wie eine Schutzmantelmadonna. Wir sprechen ja auch von der „Landschaft der Seele“, wir reagieren oft unbewusst auf archaische Landschaften. Sie kennen das sicher: Sie kommen wohin, wo Sie noch nie waren, haben aber das Gefühl: Hier war ich schon mal.
Ja, ein Déjà-vu. Noch ein Wort zur winterlichen Seite der Berge. Wie wirkt sich das Skifahren psychisch auf Menschen aus, im Unterschied zum Wandern?
❞ Das Alpin-Skifahren hat etwas sehr Ästhetisches, ist aber im Vergleich auch stressiger. Es ist nicht so meditativ, nicht so sich versenkend. Dafür spielt das tänzerische Element, das tief in uns Menschen drin ist, eine Rolle. Auch der Umgang mit Geschwindigkeit, mit Eleganz, kommt hier eher zum Tragen. Das Skifahren ist eher extrovertiert, das Wandern hingegen introvertiert, könnte man sagen.
Vielen Dank für das Gespräch. ▲