Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

7 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Raserei in Weiß

Steile Karriere: Der von Arnold Fanck am Arlberg gedrehte Tonfilm "Der weiße Rausch – neue Wunder des Schneeschuhs" wurde 1931 im Ufa-Palast in Berlin uraufgeführt.

Der Bergfilm gilt als deutsches Genre, begründet von Pionier Arnold Fanck.

Das Bild der alpinen Helden und der Berge selbst hat sich seither stetig gewandelt.

Text: Franziska Horn

Es war ein Vortrag, der auf ganzer Linie überraschte. Es war 2013,

beim jährlichen Fachübungsleiter-Symposium des Alpenvereins

München & Oberland, das Thema mutete zunächst eher trocken an:

„Konflikte – Erfolgreich Gruppen leiten mit themenzentrierter Interaktion“.

Aber dann: Auf dem Podium zeigte Manfred Huber, Dozent

vom Institut Gauting, alte Spielfilmausschnitte in Schwarz-Weiß

und setzte sie dann in einem großen Wurf in den Kontext zu Gruppendynamik,

Persönlichkeitsentwicklung und zur „Heldenreise“ als

Schema menschlicher Erfahrung. Luis Trenkers Liebesbriefe aus dem

Engadin von 1938 als Vorlage für modernes Konfliktmanagement?

Film ab: Ein Zug rauscht durch ein tief verschneites Tal.

Schnitt. Im Inneren des Waggons sitzt ein mondänes Stadtmädel in

weichen Kissen. Schnitt. Oberhalb tobt ein wildes Abfahrtsrennen,

auf meterlangen Holzlatten über die unverspurten Steilhänge. Stürze

im Schnee. Eine Raserei in Weiß. Doch immer wieder entkommt

der schneidige Toni Anewanter (Luis Trenker) seinen Verfolgern.

Er will, er muss den Zug erreichen, in welchem sein Gspusi gerade

davonflitzt. Dann bricht ein Ski entzwei, jetzt hängt der Toni fest.

Rafft sich auf. Klaut einen Ski, irgendwoher – weiter geht’s. Hinauf

und hinab. Hin und her. Fast zehn Filmminuten dauert die Hatz

über die Hänge, ein bis heute gern wiederholtes Motiv des Bergfilms

(James Bond!). Und doch stecke in diesen Szenen weit mehr, erklärte

Huber dann. Die Zugfahrt im Tal im Schnitt gegen die gleißenden

Gipfel: der Kontrast von Stadt und Natur. Oben die lebendige Jagd in

einer fremden Bergwelt voller Abenteuer: die Welt der Freiheit, die

neue Welt. Unten im Tal die Zivilisation, in der es routiniert wie auf

Schienen läuft, eine industrialisierte Komfortzone – schon damals.

Die urbane Welt: Im Bergfilm ist sie die Welt des Mangels und des

Unglücklichseins. Grund genug für Sinnsuche und Aufbruch ins

Ungewisse: So beschreibt es Mythenforscher Joseph Campbell (1904

bis 1987) in seinem 1949 erschienenen Buch „Der Heros in tausend

Gestalten“. Er skizziert die ewige Suche des Menschen nach Erfolg,

Glück und Veränderung, mit allen Irrungen und Wirrungen auf dem

Weg zum Ziel. Es ist das Prinzip der Heldenreise. Auch genannt:

„The Quest“. „Gemäß Campbell ist die Heldenreise

ein uraltes Erzählprinzip, ein Destillat, das

auf psychologischen menschlichen Erfahrungen

beruht“, sagte Manfred Huber. Beeinflusst

von der Tiefenpsychologie und

von C. G. Jung gliederte Campbell das Schema

für diesen Weg der Wandlung in zwölf

Stationen. Ein Schema, das in gestraffter

und reduzierter Form auch für Film-Drehbücher

gilt: Ein Protagonist („Held“) macht

sich auf, ein Ziel zu erreichen. Er kommt voran,

trifft Helfer und Mentoren, Gegner und

Widerstände. Er erlebt Wendungen, Krisen,

Schmerzen, Verluste, Konflikte, dann den

Punkt, der eine Umkehr unmöglich macht –

bis schließlich der Gipfel erreicht, die Rückkehr

ins Tal geglückt, die Trophäe, der Gral,

das Elixier, die Weltformel, das Allheilmittel

errungen, die Frau/der Mann des Lebens

gefunden oder das Böse besiegt ist.

Die Zyklen der Heldenreise finden

sich in der Bibel oder in Sagen der Antike,

in Shakespeares Dramen, Grimms Märchen

und in Hollywood-Blockbustern wie Matrix,

Star Wars, Pretty Woman, Titanic, Herr der

Ringe oder Harry Potter. Ein und dasselbe

Erzählschema für Filme ganz unterschiedlicher

Couleur? Das funktioniert. Im wahren

Leben kann schon eine einzelne Bergtour

zur Heldenreise werden, ein Kletterkurs

oder eine Ausbildung zum Fachübungsleiter.

Der erste Achttausender. Oder alle

vierzehn? Zurück zum Film. In Liebesbriefe aus dem

Engadin führte Trenker Regie, schrieb das

Drehbuch, spielte den Protagonisten. Gelernt

hat er zuvor bei Altmeister Arnold

Fanck, dem Bergfilmpionier schlechthin.

Schon 1931 hatte Fanck in Der weiße

Rausch – neue Wunder des Schneeschuhs ein

Verfolgungsrennen seiner Hauptdarsteller

Hannes Schneider, Guzzi Lantschner – und

Leni Riefenstahl als „Schibaby“ – inszeniert.

Der Geologe Fanck (1889 bis 1974) gilt

als Erfinder des Bergfilm-Genres. Er hatte

früh erkannt, dass es nicht genügt, Berge

dokumentarisch abzufilmen, um die Massen

ins Kino zu holen. Also entwickelte er

eine Spielhandlung und setzte den Menschen

als „Bezwinger“ in ein Spannungsverhältnis

zum Berg, oft unter Einsatz von

Lebensgefahr – das galt für den Film-Plot

ebenso wie für die Dreharbeiten vor Ort.

So gelang beides: monumentale Gipfel auf

Zelluloid zu bannen – und die Zuschauer

durch ein emotionales Narrativ. Dabei griff

er durchaus auf romantisierende Veduten

im Sinne von Caspar David Friedrich zurück,

aber auch auf moderne Technik. Mit

Kameramann Sepp Allgeier (1895 bis 1968)

setzte Fanck Filmtechniken wie die „entfesselte

Kamera“ ein, um die Schwenks dynamischer

zu gestalten, und gründete eine

eigene Produktionsgesellschaft namens

Berg- und Sport-Film GmbH. Um diese herum

entstand die Freiburger Schule, deren

Kameramänner sich für damalige „Extremsportarten“

wie Skilaufen, Skispringen und

Bergsteigen begeisterten. Dafür schleppte

Allgeier seine Zehn-Kilo-Kamera auf den

Berg und ließ sie auch mal von Lawinen

überrollen.

Die Berge selbst boten ein reiches Inventar

für gute Geschichten und imposante

„Berghelden“: für äußere Kämpfe gegen

Schneesturm, Lawinen, Gletscherspalten,

Verletzungen, große Kälte oder Konkurrenten.

Oder für die noch größeren inneren

Kämpfe – wie Verbote, Ängste, Konflikte. Bei

Fanck häufig zentral: der Konflikt Mensch

gegen Berg. So müssen sich in Im Kampf mit

dem Berge (1921) Hannes Schneider und Ilse

Rohde durch spaltenreiche Gletscher den Liskamm hinauf- und wieder hinunterarbeiten. 1923 folgte der Stummfilm Berg des Schicksals, für Luis Trenker die erste Hauptrolle

überhaupt. Der muss hier ein No-Mountains!-Versprechen brechen,

um eine Jugendfreundin zu retten. In Berlin sieht die 21-jährige

Leni Riefenstahl (1902 bis 2003) den Film und bewegt Fanck dazu,

eine Rolle für sie zu schreiben: 1926 spielt sie in Der heilige Berg die

Tänzerin Diotima, eine Frau zwischen zwei Männern. Eine Konstellation,

die sich wiederholt, vor der Kamera und auch dahinter.

Für die beiden Berghelden, gespielt von Luis Trenker und Ernst

Petersen, geht das im Film nicht gut aus. Auch in Fancks erstem

Tonfilm von 1928, Stürme über dem Mont Blanc, wirken die bewährten

Zutaten: die Bergwelt als Akteur, Pathos und Mystik, eine Verfolgungsjagd,

eine Frau zwischen zwei Männern und der Berg, der

Prüfungen in Form von Unwettern schickt. Im selben Jahr erscheint

Fancks wohl packendster Film, Die weiße Hölle vom Piz Palü. Beim

Dreh lässt Fanck eine Schneewand oberhalb von Leni Riefenstahl

absprengen, um Dramatik zu erzielen. Wieder setzt er seine Darsteller

hohen Gefahren aus. Der Protagonist muss leiden, so lautet eine

Drehbuch-Regel gemäß Heldenreise. Im Film versucht Dr. Johannes

Krafft (Gustav Diessl) immer wieder, die Nordwand des Piz Palü zu

besteigen, wo seine Frau einst in einer Spalte starb. Dabei trifft er

auf ein junges Paar mit demselben Ziel, so entsteht eine Schicksalsgemeinschaft,

in der Riefenstahl – genau! – einmal mehr zwischen

zwei Männern steht. Stürme, Steinschlag und Lawinen beschleunigen

Handlung und Dramatik. Krafft findet schließlich Erlösung und

Katharsis, indem er das Paar quasi als Kompensation retten kann,

während er sich selbst opfert und am Berg erfriert – in der Nähe

seiner toten Frau. Im Tode vereint. Fanck habe, heißt es später, mit

seinen Heldenepen der Weimarer Republik einer durch den Ersten

Weltkrieg gedemütigten Nation neuen Aufwind verschafft. Trio infernale: Fanck, Trenker, Riefenstahl

Apropos Politik: Der frühe deutsche Bergfilm war stets politischer

Instrumentalisierung ausgesetzt. 1932 entsteht der in Südtirol angesiedelte

Film Der Rebell, dem Leben von Nationalheld Andreas

Hofer nachempfunden. Drehbuch, Regie, Hauptdarsteller: Luis

Trenker. Hitler soll den Streifen mehrmals gesehen und wegen

der nationalen Gesinnung hoch gelobt haben, Goebbels erhob den

Film zum „Vorbild“. Im gleichen Jahr bringt Riefenstahl als Variation

eines Urmythos Das blaue Licht heraus und gibt das als Regiedebüt

aus. Doch verantwortlich für die Regie ist Béla Balázs, den

sie nachträglich um Honorar und Anerkennung bringt. Von Fanck

hat Riefenstahl in Sachen Körperkult, Heroisierung und Glorifizierung

der Protagonisten dazugelernt, Anhänger der faschistischen

Ideologie ist Fanck jedoch nicht. Mit Der Berg ruft (1938) zementiert

Luis Trenker sein Image vom heimatduseligen Naturburschen für

alle Zeiten. Doch während sich Trenker 1940 der NSDAP anschließt,

tut Riefenstahl das nicht und reüssiert trotzdem beruflich. Fanck

wiederum hatte sich früh von der NSDAP distanziert und fällt daraufhin

in Ungnade. Als er 1940 doch noch beitritt, im Versuch einer

späten Anbiederung, ist es zu spät. Hitler propagiert Riefenstahl,

Goebbels fördert Trenker. Fanck, der den Berg für die Massen erschlossen,

das Skilaufen populär und eine ganze Industrie angeregt

hat, stirbt verarmt. An ihm orientieren sich zahllose Filmemacher

bis heute, darunter Willy Bogner (Fire & Ice), Leo Dickinson und

Reinhold Messner.

Als Reaktion auf die Traumata des Zweiten Weltkriegs entsteht

in den Nachkriegsjahren bis ca. 1960 der Heimatfilm mit rund 300

deutschsprachigen Produktionen. Was diese verbindet: Berge sind

hier nicht mehr Bedrohung, sondern heile Welt und Sehnsuchtsort.

Eine einfache Welt, in der das Traditionelle häufig klischeehaft

und heimattümelnd stilisiert wird, oft mit seichter Spielhandlung.

Es geht um das Wildern oder den Erbstreit, das Gute und das Böse

werden scherenschnittartig getrennt. Manche Streifen kommen

als romantisierendes Rührstück daher, darunter Verfilmungen von

Ludwig-Ganghofer-Romanen, z. B. Das Schweigen im Walde, eine

Romanze zwischen der blonden Sennerin Lore (Belinda Mayne) und

dem schnöseligen Graf Ettingen (Alexander Stephan), der prompt

eine Wandlung (Heldenreise!) durchmacht hin zum geläuterten

Waldbesitzer – gedreht im Berchtesgadener Land. Und wer erinnert

sich noch an den schlimmen „Huisentoni“ (Siegfried Rauch)

aus Der Jäger von Fall (1974)? Ähnlich trivial geht es in Der Förster

vom Silberwald mit Rudolf Lenz zu (Österreich, 1954), mit rund 28

Millionen Kinobesuchern ein Klassiker und Kassenschlager des

Heimatfilms, in dem die Kritiker „eine durchschnittliche Schnulze

mit stereotyper, konventioneller Handlung“ sahen. Anders als

bei Fanck, wo der Berg als Akteur dem Menschen seine harschen

Gesetzmäßigkeiten aufzwingt, ist der Blickwinkel im Heimatfilm

touristisch, der Berg eine passiv-liebliche Kulisse – aber auch hier

schon ein mitunter gefährdetes Stück Natur.

(etc)

Zum Original