Auf dem Weg zum Eisjoch und zum Taschljoch warten wichtige kulinarische Funde.
Genau 30 Jahre ist es her, seit „Ötzi“ am Tisenjoch entdeckt wurde. Bis heute führen die Schnalstaler Wanderwege entlang prähistorischer Routen. Der Schnalser Richard Rainer ist Wander- und Kulturguide, kennt jeden Stein seiner Heimat und weiß, wo alpine Schätze zu finden sind: Steinadler, Murmeltiere, Edelweiß … sowie der beste Marillenschmarrn Südtirols.
Gut, ein Geheimtipp ist es nicht mehr, das Pfossental. Aber abgelegen: Es zweigt vom rund 20 Kilometer langen Schnalstal in nordöstlicher Richtung ab und führt mitten hinein in den Naturpark Texelgruppe, einem ursprünglich gebliebenen Wanderziel wie aus dem Bilderbuch. Das Pfossental ist bekannt als eines der schönsten Seitentäler der Alpen überhaupt. Darum will Wanderführer Richard Rainer aus dem Dorf Unserfrau auch früh am Morgen los, damit wir das Tal für uns haben. Kurz nach acht kurven wir die enge Serpentinenstraße ins Pfossental hinauf. Vorbei am Infanglhof, der für seinen Käse und Speck bekannt ist, vorbei am Nassreidhof mit dem typisch von der Sonne schwarz gebrannten Lärchenholz. Am Parkplatz Vorderkaser endet die öffentliche Straße. Ein schneller Kaffee im Gasthof Jägerrast, der bereits auf stolzen 1700 Metern Höhe liegt, dann laufen wir los in das traumschöne Tal, immer geradeaus auf Weg Nr. 24 und sanft ansteigend über weite Böden hinein zu den Gipfelpyramiden im Talschluss.
„Schau mal hier“, sagt Richard schon nach ein paar Metern und zeigt auf drei schimmernde Edelweiß direkt am Wegrand. Ich wäre glatt dran vorbeigelaufen. Ein Stück weiter blüht Arnika auf den Almwiesen, tiefenentspannt liegt das hübsche Grauvieh mit seinen sahneweißen Mäulern im Gras. Wir passieren Infotafeln zu Schneehühnern, Alpensalamandern und Murmeltieren, kreuzen mehrmals den Wildbach und erreichen die Mitterkaser Alm, die Rableid Alm und den Eishof – drei lohnende Stationen für die kulinarische Einkehr. Doch wir ziehen erstmal weiter, denn die formschönen Spitzen mit Namen Namen wie Kleine Weiße und Hohe Wilde im Talschluss ziehen uns magisch an.
Dann holt Richard plötzlich den „Gugger“ raus, den Feldstecher: „Schau, dort oben über der Texelgruppe dreht ein Steinadler seine Kreise. Er nutzt die Thermik“, erklärt er und erzählt vom ebenfalls heimischen Bartgeier. Murmeltiere pfeifen und lümmeln entspannt auf den sonnigen Felsen, machen Männchen, als wir näherkommen und verschwinden dann flink zwischen Alpenrosen. Immer wieder geht der Blick zurück zum Similaun, ikonischer Berg des Schnalstals und der Sage nach Sitz der „Weißen Göttin Ana“. Als der Weg schmal wie ein Bergpfad wird und sich um ein paar Felsnasen windet, weichen wir einem fröhlich trappelnden Ziegen-Kindergarten aus, der uns entgegentrabt. Ein Stück vor dem Anstieg zum Eisjoch, hinter dem die Stettiner Hütte liegt, drehen wir auf rund 2250 Metern Höhe um. Schließlich wartet der filmreif gelegene Eishof mit seiner feinen Speisekarte auf uns. In den letzten drei Jahren hat das junge Team um das Wirtspaar Uli Haller und Annemarie Kurmann den Eishof zur gefragten Anlaufstelle für Gerngutesser gemacht. Regional, nachhaltig, ambitioniert und trotzdem lässig. Südtirol eben. Wirtin Annemarie stammt aus der Nähe von Leipzig und serviert draußen einen blütengeschmückten Knödelteller mit marinierter Roter Bete und Parmesancreme, dazu ein Glas „2019 Tiroler“, eine weiße Cuvée aus der Bergkellerei Passeier. Das mundet, und zwar sehr.
Beim Essen erzählt Richard vom jungsteinzeitlichen Schneeschuh, der ganz in der Nähe am Gurgler Eisjoch gefunden wurde: „Und mit rund 5800 Jahren ist das Fundstück noch mal 500 Jahre älter als Ötzi selbst.“ Des war‘n scho Hund, unsere Altvorderen. Später kredenzt Annemarie drinnen am warmen Ofen einen karamellisierten Marillenschmarrn, knusprig und aromatisch und irgendwie nicht von dieser Welt. Ein Marillengrappa steigert das Geschmacksereignis noch. Ein Kompliment an Köchin Simone Auer, die als gelernte Gärtnerin gern essbare Blüten rund um ihre kulinarischen Highlights drapiert. „Das hier ist eine Art Erfüllung und macht extra viel Spaß“, sagt Annemarie über das Wirtsleben und erzählt von geheimen Kraftplätzen rund um den Eishof. Noch ein Stück heimischen Bergkäse einkaufen, dann streben wir zurück zum Parkplatz. Am nächsten Tag steht das Taschljoch auf dem Programm. Macht rund 860 Höhenmeter im Aufstieg. „Das Taschljoch ist wie das Gurgler Eisjöchl ein prähistorischer Übergang, den die Vinschger Schafe bei der berühmten Transhumanz ins Ötztal passieren“, hatte Richard erzählt.
Nur wenige Wolken ziehen über den heute blitzblauen Himmel, als ich losgehe. Von Kurzras auf rund 2000 Meter Höhe im Talschluss des Schnalstals führt Weg Nr. 4 über den Wieshof durch lichten Bergwald ins verwunschene Lagauntal, dann über eine Holzbrücke und einen Moränenhang stetig höher. Dann steilt der Weg auf, schlängelt sich schließlich in engen Kehren durch Schotterfelder hinauf zum weitläufigen Taschljoch mit den Mauerresten der ehemaligen Heilbronner Hütte, die 1932 abbrannte. In der Ferne grüßt die Ortlergruppe mit schneeigen Gipfeln. Ein kalter Wind fegt auch hier übers Joch. Seit Urzeiten passieren die Schlandrer Hirten mit ihren Wanderschafen dieses hochalpine Gelände.
Vom Gedanken an die Vergangenheit geht der Blick zu den Zeichen der Gegenwart: nach Norden zum Kamm der rund 3200 Meter hohen Grawand mit dem Glacier Hotel Grawand und der Bergstation der Gondelbahn. Seit 2020 flankieren zwei neue architektonische Elemente das höchste Berghotel der Alpen: Ein paar hundert Meter westlich errichtete der dänisch-deutsche Künstler Olafur Eliasson mit „Our Glacial Perspectives“ sein erstes Werk auf Südiroler Boden, östlich setzt die Aussichtsplattform „Iceman Ötzi Peak“ einen gestalterischen Akzent. Auf Weg Nr. 6 steige ich über letzte Altschneefelder vorbei an violett leuchtenden Alpenprimeln hinunter zur Berglalm, wo die nächste Knödel-Time auf mich wartet. Wer möchte, nimmt dann den Weg zurück nach Kurzras oder wandert in leichtem Auf und Ab über Weg Nr. 13 auf den erstaunlich türkisgrün schillernden Vernagtstausee zu, bis der Pfad schließlich auf dessen breite Staumauer mündet.
Franziska Horn
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