Die Gegend um den Obersalzberg ist als Keimzelle des Nationalsozialismus
so berühmt wie berüchtigt. Die Dokumentation Obersalzberg enthüllt die Historie des Ortes,
der heute tausende Touristen aus aller Welt anzieht
Nicht weit von der heutigen Dokumentation Obersalzberg beginnt der Carl-von-Linde-Weg, der sich über fünf Kilometer auf gleicher Höhe und vorbei am Café Windbeutelbaron bis hin zur idyllisch gelegenen Scharitzkehlalm hinzieht. Schon kurz nach Beginn des Waldwegs erblickt der Wanderer alte, überwucherte Fundamente zwischen den Bäumen. Die Mauerreste stammen von einer ehemaligen Kino- und Theaterhalle der Nationalsozialisten, die 1937 von Adolf Hitler eingeweiht worden war. Sein Name muss nicht erklärt werden. Doch wer war Carl von Linde? Der Ingenieur (1842 – 1934) gilt als Pionier der Kältetechnik, erfand ein Verfahren zur Verflüssigung von Luft und damit das Kernelement für Kühl- und Gefrierschränke. Nach Zeugenaussagen entwickelte er den Geniestreich eben hier im äußersten Winkel Bayerns. Auf seiner Hochzeitsreise war er erstmals zum Obersalzberg gekommen, so der Name dieses hoch gelegenen Ortsteils von Berchtesgaden. Linde gilt als Prototyp einer gehobenen Gesellschaftsschicht, die diesen malerischen Flecken zwischen Göll, Untersberg und Watzmann als Ort der Sommerfrische für sich erkor. Zeit seines Lebens verbrachte Linde viele Monate in den bayerischen Bergen und wurde hier schließlich sesshaft, ebenso wie die Klavierbauerdynastie Bechstein oder der jüdische Chemiker Arthur Eichengrün, der an der Erfindung des Aspirins mitwirkte. Die Touristen von heute dagegen logieren im Kempinski Hotel Berchtesgaden: Das weitläufige Luxushotel thront auf einer Anhöhe mit weitem Talblick – und auf einem Grund, auf dem zuvor die Villen von Martin Bormann und Hermann Göring standen. Was alles genau auf diesem berüchtigten Flecken Erde geschah, enthüllt die vielbesuchte Dokumentation Obersalzberg. Eröffnet 1999, zählte das Museum bis Mitte 2019 den dreimillionsten Besucher. Rund 175.000 Touristen pro Jahr besuchen das Gebäude mit seinen Exponaten auf drei Etagen. Dazu gehört auch die Bunkeranlage mit sechs Kilometern Länge und 107 Kavernen, die ab 1943 entstanden – ein Teil davon ist heute begehbar: eine bedrohlich wirkende, muffige Unterwelt, die als Fluchtort dienen sollte. Nicht nur aus heutiger Sicht ist das Bollwerk eine Mausefalle und nicht die vielgerühmte Alpenfestung oder Verteidigungsstellung, als die es gepriesen wurde.
Schocker am Eingang: Hitler, inszeniert als Messias
Die beiden unteren Geschosse der Dokumentation liefern das Basis-Hintergrundwissen zum NS-Staat, die obere Galerie behandelt Geschichte und Geschehen am Oberssalzberg. Gleich die erste Bildcollage am Eingang der Galerien ist ein starker, bewusst gesetzer Schocker: In der Mitte eine große Aufnahme Hitlers, inszeniert als Messias, umjubelt von Massen mit Hitlergrußhand. Zu beiden Seiten zeigen Fotos die kontrastreiche, bittere Realität hinter der Propagandaidylle: Bilder von Ruinen, vom zerstörten Nürnberg, vom KZ Bergen-Belsen. Versprechen versus Verbrechen also. Auf seinem Parcours durch die Räume lernt der Besucher: Hier am Obersalzberg bildete sich die Keimzelle des Bösen, schmiedete teuflische Pläne, ausgedacht und geplant vom Spindoctor des Grauens. Wie es begann, das zeigt der eindrückliche Film „Zeitzeugen berichten: Vom Bergbauerndorf zum Führersperr- gebiet“, der in einem Abteil der Galerie gezeigt wird.
Im 17. Jahrhundert lebten auf dem Salzberg über 500 Bergbauern, Bergleute, Salinenarbeiter, Schnitzer, Schreiner und Fuhrleute. Der Boden war nur sieben Monate im Jahre schneefrei und konnte nicht alle ernähren. Was lag näher, als Fremdenzimmer anzubieten? Die Feriengäste der ersten Pension Moritz reisten ab 1878 zur Sommerfrische an, darunter berühmte Gäste wie Clara Schumann, Johannes Brahms, Franz von Lenbach, die Schriftsteller Peter Rosegger und Ludwig Ganghofer. 1923 kam Hitler das erste Mal auf den Obersalzberg, im Kampfhäusl, einer kleinen Blockhütte der bekannten Pension Moritz, verfasste er den zweiten Teil von „Mein Kampf“. Ab 1928 mietete Hitler das Haus Wachenfeld, das er schließlich im Sommer 1933 kaufte, in Berghof umbenannte und zu einer repräsentativen Residenz mit dem allseits bekannten Panoramafenster ausbauen ließ. Auch die Fundamente des Berghofs lassen sich heute noch in einem kleinen Wäldchen erahnen. Nach der Machtergreifung 1933 baute die Nazispitze den gesamten Obersalzberg als Rückzugsgebiet aus, der Berg wurde zum Wallfahrtsort und Führersperrgebiet. 1938 errichtete die NSDAP das auf dem Kehlstein gelegene und bis heute unzerstörte Kehlsteinhaus, ein Geburtstagsgeschenk zum 50. Geburtstag des Diktators. Als Berggaststätte ist das Kehlsteinhaus heute ebenfalls ein touristischer, wenn auch schauriger Hotspot. Die angestammten Erben der Bergbauernhöfe wurden mit wenig Geld abgefunden und vertrieben. Wer nicht verkaufen wollten, dem wurde Haft angedroht und diese zum Teil auch vollzogen. So geschah es im März 1937 Johann Brandner, Besitzer eines Fotokiosks, den er verkaufen sollte und der sich deswegen bei einer persönlichen Begegnung direkt an Hitler wandte. „Dem Mann muss geholfen werden!“, soll Hitler geantwortet haben. Das sah so aus: In der folgenden Nacht wurde Brandner festgenommen und ins KZ Dachau gebracht, ab Kriegsmitte zog man ihn als Soldaten ein, er fiel am 28. Januar 1945. Zeitzeugin und Bergbauerntochter Johanna Stangassinger erzählt im Video von der Ekstase der Anhänger. „Ein richtiges Kasperltheater“, sagt sie. Zeuge Egon Hanfstaengl erinnert sich: „Die jüdische Familie von Eichengrün wurde weggeekelt, es gab Hitlerwallfahrten, das Fremdenverkehrsamt Berchtesgaden organisierte ab 1935 Sonderzüge mit Blasmusik am Bahnsteig.“
Weit verzweigtes Bunkersystem
Nahezu ein Drittel seiner Regierungszeit verbrachte Hitler an seinem zweiten Regierungssitz und empfing auf dem Berghof auch Staatsgäste. Hier traf er zahlreiche Entscheidungen: vom Judenboykott über den Anschluss Österreichs bis hin zu den großen Feldzügen des Zweiten Weltkrieges. Hier inszenierte er sich medienwirksam als volksnaher Führer inmitten einer ikonischen Alpenkulisse. Erst die massiven Luftangriffe der alliierten Streitkräfte auf große Teile Deutschlands führten zum Ausbau der Luftschutzanlagen am Obersalzberg. Es entstand ein tief im Fels gelegenes, weit verzweigtes Bunkersystem. Am 25. April 1945 griffen 300 britische Lancaster-Bomber der Royal Air Force (RAF) den Obersalzberg an, warfen fast 1300 Bomben ab und zerstörten einen großen Teil der Nazibauten. „Die haben den Obersalzberg richtig platt gemacht“, sagt Johanna Stangassinger. Die Stärke der Dokumentation: Das Unbeschreibliche anhand zahlreicher Belege dokumentiert zu sehen, das hat Kraft. Auch wenn die gelungene Auswahl der versammelten Dokumente, Fotos, Zitate, Bilder, Originale, Zeitschriften, Bücher mitsamt plastischen Modellen wohl nur einen ungefähren Eindruck des abgründigen Geschehens an diesem historischen Ort vermitteln kann.
Weil das Interesse an der Dokumentation Obersalzberg ständig wächst, plant der Freistaat Bayern derzeit einen Erweiterungsbau, für den auch die Dauerausstellung neu gestaltet wird. Sie wird ebenfalls vom Institut für Zeitgechichte (IFZ) unter dem Titel „Idyll und Verbrechen“ konzipiert. Erweiterung und Neugestaltung sollen künftig noch intensiver zur Entmystizierung des Ortes beitragen. Info unter www.obersalzberg.de oder www.ifz-muenchen.de
Von Franziska Horn