Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

7 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Algier - die weiße Stadt

Das Licht des Südens, der Staub der Vergangenheit: Die Stadt am südlichen Mittelmeer pendelt zwischen den Welten, zwischen Gestern und Heute. Algier bezaubert auf ewig. Und beschert seinen Besuchern einen schwindelnden Rausch.

Text: Guillaume de Dieuleveult, Franziska Horn 

Ein Samstagmorgen in der Rue Didouche-Mourad, am Fuße der Universität von Algier. Zwei Musiker stellen die Hocker in den Schatten eines Ficus-Baums (Maulbeer-Feige). Sie beginnen zu singen. Der ältere Mann, mit weißem Haar und brauner verwaschener Jacke, zupft die Saiten einer Mandoline. Der Jüngere trägt Bart und Mütze. Er spielt auf der Darbouka, der nordafrikanischen Bechertrommel. Um sie herum schließt sich ein Kreis aus Menschen. Lärm und Verkehr der Stadt vergessen sie ganz.

Andächtig lauschen sie den melodischen Klängen, die die Instrumente hervorbringen. Sie formen eine Melodie, die sich zu reichen Arabesken aufschwingt und zu einer beinah endlosen Schlange aneinander reiht. Nur ein paar Kinder trauen sich nah heran. Wenige Zentimeter entfernt verharren sie vor den Männern, die fortfahren, ihr Publikum zu hypnotisieren: alte Männer mit Krawatten, Frauen mit oder ohne Schleier, Studenten, Lieferjungen, Kellner, Büroangestellte und Arbeiter.

Hier bleiben sie stehen, die tausenderlei Gestalten, die täglich die Straßen von Algier bevölkern. Gebannt halten sie inne, nicken die Köpfe im Takt, inhalieren die Klänge. Manchmal entfährt der Menge ein Jubel, ein Händeklatschen – der Lohn für die Künstler, die im wohltuenden Schatten des Ficus den Chaabi aufspielen, ein Mix aus religiöser, andalusischer und Berber-Musik.

Unter den vier Winden

Die Kraft der Sonnenstrahlen zwingt die Musiker schließlich, aufzuhören. Die Menschen verlieren sich in den Straßen, doch die alten Melodien nehmen sie mit. Die Hitze macht sie nicht schwindeln, sie fühlen sich wohl in diesem Licht, im Herzen dieser Stadt, in der sie geboren wurden, die mit ihrer wechselvollen Vergangenheit für immer ihr zu Hause sein wird. Algier, das wie alle ruhmreichen Stätten am Mittelmeer ein langes Gedächtnis hat.

Wie eine alte Dame thront die Stadt auf ihren Hügeln und schaut hinaus auf das Meer. Sie sieht alles, vergisst nichts, was sich unter den vier Winden zuträgt, seit Herkules und seine Gefährten hier die Fundamente des alten Ikosim legten. Die Phönizier nannten sie "Insel der Möwen" – von den Karthagern zerstört, von den Römern Icosium getauft. All diese Erinnerungen bleiben im Bauch und sind heute in der neuen U-Bahn-Station „Place des Martyrs“ zu sehen. Algier führt jeden Spaziergänger unvermeidlich in den Wirbel der Geschichte, der Antike und der Moderne, des Schmerzes und des Vergessens.

Das Wort Algier stammt von al-Djazâir, arabisch für „die kleinen Inseln“. Erstaunlich, dass das größte Land des afrikanischen Kontinents seinen Namen einigen wenigen Inseln verdankt, die nicht mal mehr zu sehen sind. Doch es gibt sie noch, wenn auch seit Jahrhunderten unter Felsen und Beton begraben, gegenüber dem Hafen, dem alten Kai der Admiralität, der alten Handelskammer, der Kasbah. Im Jahr 1510 pflanzten die Spanier in Fortsetzung der Reconquista "einen Dorn im Herzen der Algerier" – so die Worte von Khayr al-Din Barbarossa, der diesen Dorn zwei Jahrzehnte später entfernen sollte.

Auf einer dieser Inseln war es den Kastiliern gelungen, eine Festung zu errichten, deren Kanonen nicht nur auf das offene Meer gerichtet waren: Für Pedro Navarro, Kapitän unter dem Befehl von König Ferdinand II., ging es vor allem darum, die turbulente Piratenhöhle zu bändigen. Die Spanier setzen die Stadt neunzehn Jahre lang unter Druck. 1529 gelang es Barbarossa und seinen Janitscharen endlich, die Mauern des Platzes zu durchbrechen. Die Soldaten, die dem Massaker entkamen, wurden versklavt.

Später legten die Herren der Stadt zwischen Küste und Insel einen Deich an. Der Deich, nach Osten ausgerichtet ist, sollte den Seeleuten einen idealen Schutz bieten. Algier, mehrere Jahrhunderte lang unter Kontrolle des Sultans von Konstantinopel, wurde zum größten Abtrünnigen- und Freibeutertreff des gesamten südlichen Mittelmeers. Und auch zum Sichersten: Jahrhundertelang bissen sich die westlichen Seemächte daran die Zähne aus. Das brachte der Stadt den Ruf der Unverwundbarkeit, welchem die Franzosen erst spät ein Ende setzten. Heute ist trotz der tausend Dramen der Geschichte noch alles da. Erst seit Übernahme Algeriens durch die Franzosen im Jahr 1830 bietet der Hafen nur noch den Fischer eine Heimat.

Raïs Loubes, Raïs Rachid, An Noura: Ihre Boote tragen noch immer Namen, jenen alten Galeonen würdig, auf denen die Söhne der Küste einst Panik säten zwischen Barcelona und Genua, von Marseille bis Palermo. Sie überfielen Männer, Frauen und Kinder, plünderten, versklavten und verkauften sie auf dem Markt der Kasbah an die Meistbietenden. Eben dort, wo der Place des Martyrs liegt, dem die Franzosen das heutige Gesicht gaben und ihn „Place du Gouvernement“ nannten.

Wenn Algier noch schläft

Am frühen Morgen, wenn Algier noch schläft, wenn die Morgendämmerung gerade über den Horizont steigt und sich ein herrliches Licht über die Fassaden breitet, legen die Boote der Fischer im heimischen Hafen an, gleich neben dem riesigen, 1939 erbauten Hangar. Dann schleichen die Katzen, die die Nacht in den Falten der Netze verbrachten, heran und beobachten interessiert die Ankunft ihres Frühstücks.

Geschäftig stellen die Matrosen die vollen Kisten auf den Kai. Ein einzelner großer Schwertfisch, die Flanke rund und glänzend, das Auge noch rund vor Erstaunen, liegt auf einem Handkarren, den ein Mann in chinesischem Blau, der traditionellen Tracht der algerischen Seeleute, eilig zum Fischhändler auf der anderen Seite der alten Moutonnière-Route schiebt, wo die Beute in Scheiben zerteilt wird. Die Cafés rundum bedienen die ersten Kunden. Die Sonne geht auf, die Stadt erwacht.

Auf den Hügeln liegt Algier nun in ganzer Pracht, mit seiner wilden, anarchischen Masse der Häuser der Altstadt. Als Frankreich 1830 die Stadt eroberte, bestand sie vor allem aus der Kasbah mit ihren legendär weißen Häusern, die sich von der Spitze des Berges bis zum Meer hinunter ziehen. Enge Straßen, Bettler, Kinder in Lumpen und lahme alte Männer, Paläste, die sich in Sackgassen verstecken, Bordelle, in denen sich Banditen und Matrosen aus aller Welt trafen: Als die Franzosen die Kais von Algier von den letzten herumlungernden Piraten säuberten, suchten die Schurken hier im Labyrinth der Kasbah Zuflucht. Dieser Kasbah setzte Regisseur Julien Duvivier mit seinem unvergessenen Film „Pépé le Moko – Im Dunkel von Algier“ ein Denkmal. Der Streifen (mit Jean Gabin in der Hauptrolle) erschien 1937, also 107 Jahre nach der französischen Kolonialisierung Algeriens und beschreibt den wohl berühmtesten Teil der Küstenstadt: "Unverwundbar, unzugänglich, bevölkert von einer erstaunlichen menschlichen Fauna, ist die Kasbah der malerischste Ort der Welt.“

Was bleibt heute, über achtzig Jahre nach „Pépé le Moko“, nach der Schlacht von Algier (1957), nach dem Weggang der „pieds-noirs“, der Algerienfranzosen, im Jahr 1962, nach dem Terrorismus der 1990er Jahre von der Kasbah übrig? Weil sie nicht instand gesetzt werden, drohen die Paläste zu verfallen. Einige brachen schon zusammen, andere klammern sich an Bretter, Balken, Gerüste. Geschäfte und Handwerkerstände schließen. Die "erstaunliche menschliche Fauna", die Duviviers Film genussvoll ablichtet, einäugige Huren und lahme Bettler, ist längst in andere Halbwelten oder zweifelhafte Schattendestinationen entflohen. Aber für den Touristen, der sich in dieses Labyrinth wagt, wirkt der Charme noch intakt. Zunächst einmal, weil die Kasbah, wie alle anderen Orte in Algier, nicht wirklich touristisch ist. Noch! In den Gassen rennen Myriaden von Kindern schreiend hinter löcherigen Luftballons her, die Erwachsenen stehen rauchend in Ecken und beobachten die Fremden mit undurchdringlicher Miene.

Manchmal öffnet sich eine Tür zu einem dunklen Schattenrechteck, aus dem gedämpfte Frauenstimmen hervordringen. Wer das Glück hat, auf eine Terrasse der Oberkasbah zu steigen, findet atemberaubende Anblicke. Zu Füßen, ganz unten, der Hafen von Algier: Er hat sich in einem halben Jahrhundert kaum verändert. Kreuzfahrtschiffe kommen und gehen. Kräne löschen die Fracht. Nicht weit liegt die moderne Neustadt, von den Franzosen erbaut. Wenn Sie die Küste entlang fahren, erreichen Sie bald den Vorort Bologhine, das ehemalige Saint-Eugène, von wo aus die Basilika Notre-Dame d'Afrique hoch über der Steilküste noch immer die Stadt bewacht.

Ihre Glocken haben seit der Ermordung der Mönche von Tibherin aufgehört zu läuten, aber die Kirche ist bis heute aktiv. Vom Vorplatz aus, von der Esplanade, öffnet sich ein herrlicher Blick auf das Meer. Ein Ort mit Geschichte – wie jeder hier in Algier. Die Stadt zwingt den Besucher auf eine schwindelerregende Reise, in nahe oder ferne Vergangenheiten, die bis heute fortwirken. Man droht fast, darin unterzugehen. Um das zu vermeiden, muss man sich einfach hinein stürzen, immer weiter gehen, wahllos durch Straßen, über Boulevards über Treppen: Die Schönheit von Algier besteht aus dem ewigen Kampf zwischen gestern und heute, der sich vor den Augen des Spaziergängers abspielt. Ein Rat an alle Nostalgiker: Laufen Sie schnell, sonst holt die Geschichte Sie ein!

Zum Original