Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

7 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Schottische Metamorphosen

Schottlands viertgrößte Stadt erfindet sich neu: Mithilfe eines Eine-Milliarde-Masterplans für die Neugestaltung des Flussufers will sich die Stadt Dundee nach einer bewegten Vergangenheit fit für die Zukunft machen. Glanzstück ist das neue V&A Designmuseum, das halb zu Wasser, halb zu Lande eine Verbindung zwischen gestern und heute schafft. 

Seine Lage an der schottischen Ostküste hat Dundee seit jeher Bedeutung beschert:

Einst Zentrale des Welthandels, erlebte die alte Industrie- und Hafenstadt seit Mitte der 1950er Jahre einen Niedergang. Nur wenige Touristen verirrten sich in den letzten Jahrzehnten nach Dundee, das lange im Schatten der attraktiven, rund eine Autostunde entfernten Schwesterstadt Edinburgh stand. Das soll sich ändern und dabei gilt es für Dundee damals wie heute, die natürlichen Standortfaktoren zu nutzen: Die Lage am Fluss Tay, längster heimischer Fluss mit 188 Kilometern, erlaubte den Zugang zur Nordsee und damit zu den allen Weltmeeren. Zudem verzeichnet Dundee mit rund 1523 Stunden mehr Sonnenscheinstunden als jede andere schottische Stadt. Damit will man im regennassen England bei Touristen punkten.


Eine Rückblende: Urspünglich zog sich ein Kiesstrand durch die Bucht am Tay, die im 15. Jahrhundert zu einem offenen Hafen mit zwei Gezeitenbecken ausgebaut wurde. Die 1649 errichtete Hafensonnenuhr existierte bis in die 50er Jahre hinein, dazu entstand ein gepflastertem Damm. Der Hafen war seit jeher der Grund für Dundees vorindustriellen Wohlstand und als großer Baltischer Hafen für den internationalen Großhandel bedeutsam. Um 1750 besaß Dundee eine der größten Walfangflotten. Den Walspeck kochte man zu Walöl, das als Lampenöl diente. Hier in Craig Harbour, wo heute friedlich die „RRS Discovery“ liegt (dazu später mehr), herrschte ständiges Kommen und Gehen, Schiffe wurden be- oder entladen oder in den nahen Werften gebaut. Es wurde Handel getrieben, Leder gegerbt, Seife gesiedet, Fässer und Nieten beschlagen, Teer verarbeitet, es gab Mehlmühlen, Fisch- und Viehdepots. Man stelle sich Trubel, Verkehr, Gerüche und Geräusche dieser Hafenmeile vor.


1815 wurde der frühe Hafen zwischen Union Street und Castle Street erweitert und nach Osten ausgebaut. Ab 1800 entdeckte man, dass Walöl zudem beim Verarbeiten von Jute nützlich war. Geschmeidig gemacht, ließen sich die aus Ostindien importierten Jutefasern so zu festen Stoffe weben, die weltweit für Säcke, Segel, Seile, Zelte, Polster und Teppiche eingesetzt wurden, sogar für Planwagen bei den Eroberungszügen im Wilden Westen. So entstand in Dundee ein Weltzentrum der Juteproduktion mit 125 Mühlen und 40.000 Arbeitern in der Hochphase, die meisten davon Frauen und Kinder – die waren billiger. Die Folge: Im 19. Jhdt vervierfachte sich die Stadt während der industriellen Revolution in 50 Jahren von 35.000 auf 130.000 Einwohner. Eindringliche Einblicke in das Leben der Arbeiter verschafft die einstige Jutefabrik Verdant Works in der Miln Street, heute ein Textilmuseum. Danach begann der lange Niedergang der Mühlen und der Industrie. Die Folge: Der Hafen wurde Anfang der 1960er Jahre teils zugeschüttet. 1998 schloss die letzte Jutefabrik, viele Bewohner wanderten schon zuvor nach Australien aus oder wurden arbeitslos, die Fabriken wandelte man in Wohnbauten um.


Um die Jahrtausendwende besaß Dundee also schon eine reiche Tradition darin, sich stets neu erfinden. Denn Schottlands siebtgrößte Stadt ist für ihren Einfallsreichtum bekannt: 1876 wurde das Aspirin hier erfunden, 1835 die erste elektrische Glühlampe, später entstanden bedeutende Verlagshäuser und Druckereien, Grundlage für die berühmte Comics, noch später kamen Videospiele hinzu – und auch die berühmte Mackays Orangenmarmelade wurde ausgerechnet in hiesigen schottischen Breitengraden erfunden und produziert: Das festigte Dundees Ruf als Stadt von „Jute, Jam, Journalism“. 2014 wurde Dundee übrigens als erste britische Stadt überhaupt von der UNESCO zur "City of Design" erklärt.


Noch tiefgreifender aber ist der Eine-Milliarde-Pfund-Masterplan, mit dem die Dundonians von sich Reden machen. Er umfasst 240 Hektar Land und soll die Docklands und die Waterfront von Dundee im Verlauf von 30 Jahren transformieren – 2001 startete die Sanierung, bis 2031 soll sie abgeschlossen sein, rund zwei Drittel dieser Bauphase sind also verstrichen. Im Zentrum des famosen Makeovers, das der teils strukturschwachen Stadt 7000 neue Arbeitsplätze und darüberhinaus internationale Anerkennung bringen soll, steht dabei, den Stadtkern entlang der acht Kilometer langer Waterfront wieder mehr an die einstige Lebensader, den Fluss Tay, anzubinden. Aufgeteilt in die fünf Zonen Riverside, Seabraes, The Central Waterfront, City Quay, Dundee Port, soll zudem neuer Wohnraum entstehen und der der eigene Dundee Airport erneuert werden.


Unansehliche Gebäude aus den 6oer und 70er Jahren verschwanden bereits, dafür entstanden Hotels wie das „Sleezers“ und direkt nebenan ein neuer Bahnhof. Mit den Slessor Gardens kam eine nahe Grünzone dazu, die auf den zugeschütteten Victoria Docks errichtet wurden, außerdem ein Fuß- und Radweg namens Black Watch Parade am Flussufer. Und auch die berühmte Fregatte HMS Unicorn von 1824, die als Museumsschiff in den Victoria Docks von Dundee liegt, erhält einen neuen Empfangsbereich. „Dazu planen wir noch eine Marina, eine Wakeboarding-Anlage und einen städtischen künstlichen Strand, um unserem Image als sonnigster Stadt Schottlands Rechnung zu tragen“, erklärt Jennie Patterson, die sich mit ihrer PR-Agentur um den neuen Auftritt der Stadt kümmert. Die Vision des übergreifenden und ehrgeizigen Großpojekts: Die Waterfront zum Anziehungspunkt für Tourismus, Investoren und Business zu machen.


Glanzstück und Highlight der neuen Waterfront ist das rund 81 Millionen Pfund teure V&A Dundee Designmuseum, entworfen vom japanischen Stararchitketen Kengo Kuma, das im September 2018 nach dreieinhalb Jahre Bauzeit eröffnet wurde – als erste Filiale des berühmten Victoria-&-Albert Museums London. Wer heute von der Union Street in Richtung Flussufer des Tay läuft, nimmt als Erstes die markante, horizontal geriffelte Fassade des modern anmutenden Baukörpers unten an der Hafenkante in Nähe der Tay Road Bridge wahr. Einen Steinwurf weiter liegt fest vertäut im Wasser ein einzelnes historisches Schiff, das Geschichte gemacht hat: Der Dreimaster "RRS Discovery" stammt aus den Werften von Dundee und brachte 1901 Ernest Shackleton und Robert Falcon Scott auf ihrer berühmten Expedition in die Antarktis. Dabei scheint die Buglinie des Schiffs gestalterisch mit den diagonalen, auskragenden Linien des kühnen Baus in seiner direkten Nachbarschaft zu korrespondieren – die zwei Baukörper des V&A Dundee wachsen wie umgedrehte Pyramiden empor und verbinden sich in der Höhe zu einem homogenen Ganzen.


Das Schiff und das Museum – sie bilden ein erstaunliches Gespann. Kein zufälliges: Beide stehen für Aufbruch, für das Ausschwärmen in neue Welten, sogar für eine neue Epoche. Denn während die Discovery-Expedition wissenschaftlich-geografischen Erkenntnissen diente, soll Dundees neues Paradebauwerk in geistig-kreative Welten führen. Und dem touristisch eher vernachlässigten Ort neue Perspektiven eröffnen. Für Dundees neues Aushängeschild stehen "die steilen Klippen von Schottlands Nordostküste Pate", sagt Architekt Kengo Kuma, Jahrgang 1954. Manche erinnern die kühnen Linien an einen Pottwal, andere an Bug oder Heck eines Schiffs. Kumas Werk ist bekannt für gelungene Bezüge zwischen Natur und Architektur, für kontemplative Ruhe – und für eine gewisse Demut dem Auftrag gegenüber. Sein jüngstes Oeuvre setzt diese Haltung fort: Mit seiner Lage, den dynamischen Linien und einem lichtgefüllten Atrium verbindet das Gebäude die Elemente Luft, Erde und Wasser: An der Hafenkante erbaut, ragt es bis zu 20 Meter weit über das Ufer des Flusses Tay, Schottlands längsten Fluss, hinaus und bildet so eine Brücke vom Land zum Wasser, vom Festen und zum Flüssigen.


Wer auf einer der Sitzbänke vor dem bodentiefen Fensterdreieck im Erdgeschoss sitzt und auf die Wellen des ewig dahin strömenden Flusses Tay blickt, entdeckt irgendwann von selbst die Analogie zwischen Ort und Gebäude: So wie sich das Wasser ständig verändert und beweglich erscheint, so zeugen auch die Linien des Baukörpers von Rhythmus, Dynamik und Bewegung. Im beinah völligen Verzicht auf vertikale Linien. Und: Nicht vordergründig nachgeahmt, sondern fein und unaufdringlich in die Sprache ihrer Materialien übersetzt – Dundees neues Designmuseum ist bereits jetzt weit mehr als nur ein Wohnzimmer für die 150.000 Einwohner-Stadt.


Seit jeher laufen die Straßen von Dundee hinunter zum Brennpunkt Hafen, von dort führt eine kurze Eisenbahnstrecke hinaus nach Broughty Ferry, wo sich die feinen Jutebarone am noch feineren Sandstrand gediegene Villen bauten und dort jenseits aller menschlichen Niederungen ein luxuriöses Dasein lebten. Das Blankenese von Dundee also, sozusagen. Ein Spaziergang dort am Strand lohnt sich damals so wie heute, begleitet von Möwengeschrei, während der Blick zum Broughty Castle, heute ein Museum, und über den längsten Fluss Schottlands hinüber nach Newport-on-Tay schweift, das nur ein paar Meilen von der bekannten St. Andrews-Universität entfernt ist.


Die Werften spielen auch heute noch eine Rolle, liegen inzwischen aber flussabwärts. So war also buchstäblich der Boden bereitet für die neue Flaniermeile und das V&A Dundee. Von dort ist es nur ein Steinwurf zur Dock Street, die ins Zentrum führt. Hier an der Dock Street liegt das 2014 neu eröffnete Vier-Sterne-Hotel Malmaison, ebenfalls Teil der Neugestaltung der Waterfront. Erbaut wurde es 1900 als Mathers Temperance Hotel und damit als Antwort auf die whiskydurchtränkten Jahrzehnte nach dem Niedergang der Juteindustrie. Apropos „Temperance Mouvement“, will heißen Abstinenzbewegung: Gleich ums Eck vom Hotel Malmaison verläuft die handtuchbreite Gasse Couttie's Wynd von der Whitehall Cres zur Nethergate, wo man idyllisch flankiert von farbigen Müllkübeln auf den tiefergelegten Eingang zum „Draffens“ stößt, ein Speakeasy wie aus der Prohibitionszeit. Ein paar Stufen führen in den Keller hinunter, wo eine gemütliche Vintage-Bar mit einer alten Holztheke überrascht, dazu rohe Backsteinwände und cosy Sitzabteile mit Retro-Flair, was will man mehr? Einen leckeren „Breakfast Martini“ natülich, ein Cocktail aus Gin, Likör, Orangenmarmelade und Zitonensaft. Da bleibt nur noch eines: ein Prost auf die Zukunft von Dundee zu trinken – „Slàinte!” heißt das Schottisch-Gälische Wort, das jeder Schottland-Besucher kennen sollte.


Die Recherchereise wurde unterstützt von Visit Scotland www.visitscotland.com und www.dundee.com 

Zum Original