Eine Insel, 380 Einwohner, viel Natur: Vrångö ist ein Eiland im Schärengarten von Göteborg. Und Håkan Karlsten betreibt das einzige Hotel dort, weil er keine Lust mehr hatte, in seinem Festlandsjob "Leute zu verarschen".
Von Franziska Horn
Bis die Fähre 281 die südlichste bewohnte Insel im Schärengarten von Göteborg erreicht, vergeht eine Dreiviertelstunde. Von Saltholmen fährt sie immer gen Süden, vorbei an stillen Buchten mit Häuschen, Stegen und vertäuten Booten. Vorbei an den flachen, felsigen Inseln Styrsö und Donsö. Dann legt sie an der Ostküste von Vrångö an, dahinter liegen nur noch die Weiten des Skagerrak.
Ohne Hast bewegen sich rund 50 Menschen an Land. Es ist Herbst und die Touristensaison vorbei. Ein paar Schritte weiter, beim Skärgårdens Café, wartet Håkan Karlsten. Gelassen beobachtet er, wer kommt und wer geht. Karlsten gehört das einzige Hotel von Vrångö, das Kajkanten liegt nur ein paar Gehminuten entfernt auf der anderen Inselseite. Doch jetzt, rund drei Uhr nachmittags, ist Fika-Zeit. Also hinein in das helle Café, das Karlstens Tochter Madeleine betreibt. Ein Kaffee, ein Stück Kuchen, ein gutes Gespräch - so lauten die Zutaten für einen klassisch schwedischen Fika-Treff.
Was hat Håkan Karlsten auf diese nur 0,5 Quadratkilometer große Insel verschlagen, auf der nur etwa 380 Einwohner leben - Aussteigerromantik? Zivilisationsmüdigkeit? Gar Weltflucht? "Nein, ganz einfach: Ich stamme von hier", sagt er. "Ich hatte einige Jahre auf dem Festland Büromaschinen verkauft - doch irgendwann keine Lust mehr, Leute mit dem neuesten Technikkram zu verarschen." Breite Schultern, breites Grinsen, blaue Augen, das strohblonde Haar kurz geschnitten, so sitzt der 54-Jährige da. Seine Antwort klingt überzeugend. Das liegt auch an der physischen Präsenz, die er ausstrahlt: Als schwedischer Meister im Ringen kämpfte er in der Nationalmannschaft und trainiert heute Jugendliche in dieser Disziplin.
Angeln, Schwimmen, Tauchen - alles würde man eher auf dieser wilden, naturbelassenen Insel vermuten. Wie kam er zum Ringen? "So konnte ich meine Energie am besten lenken", sagt Karlsten, lacht und steuert sein elektrisches Minicar über die autofreie Insel zum Hotel. Hell strahlen die elf kleinen Hütten des Kajkanten im Licht der Nachmittagssonne, außen wie innen.
Birkenwälder und Granitfelsen
Mit Kompagnon Jörgen Gerdrup hat Karlsten das Hotel im Stil heimischer Fischerhütten direkt im Hafen erbaut und vor vier Jahren eröffnet. Auf kleinem Raum haben die Zimmer jeweils eine Pantry plus bodentiefe Fenster mit Blick auf das Hafenleben und das sich ständig ändernde Licht. Hier zu leben mit dem, was man hat und was man braucht, dazu der Luxus einer weitgehend intakten Natur - das scheint bereits Antwort genug auf die Frage: Warum Vrångö?
"Kajkanten heißt Hafenkante", erklärt Håkan Karlsten, und das ist wörtlich zu nehmen: Zweimal umfallen, gemessen in Körpergröße ab Bettkante, schon steht man mit den Zehenspitzen am Wasser. Einen Steinwurf weiter dümpelt das Saunaschiff, das zum Kajkanten gehört und sommers wie winters geheizt wird. "Und jetzt zeig ich dir Vrångö", sagt Karlsten und spurtet los auf einen Parcours um die langgestreckte Insel mit ihren vielen Buchten und zwei Naturreservaten. Erst auf Wanderwegen, später direkt an der Wasserkante, er springt von Fels zu Fels, über griffigen Granit mit rauer Oberfläche. Den wussten schon die Urahnen zu schätzen, wie Jahrtausende alte Schriftzeichen verraten. Später wechseln Felsszenerien mit Wiesen, niedrigem Gehölz, Birken- oder Nadelwäldern und hellen, feinsandigen Buchten an der geschützten Ostseite - Vrångö gilt als Badeparadies der Göteborger.
Doch der Sommer ist vorbei. Tage zuvor hat Sturmtief "Ali" das Meerwasser weit über die Wiesen hoch gedrückt und Tang auf die Strände gespült. "Ab und zu fehlt nach dem Sturm ein Schaf", sagt Karlsten. Dafür liegen nun vereinzelt Plastikfetzen am Strand: "Das Zeug hol ich morgen ab!" Dann hebt er eine Austernschale auf: "Die gehört nicht hierher. Hat wohl ein japanisches Boot verloren."
Der Pfad windet sich durch kleine Haine und Wiesen, durch Hohlwege und dichtes Gestrüpp. Wilde Äpfel leuchten im Dickicht, blau die Schlehen, tiefrot die Hagebutten. Die Insel gehört jetzt den Vögeln, den Eiderenten, dem graubraunen, mit der Nachtigall verwandten Sprosser. Zwei Schwäne gründeln in einer Bucht, beobachtet von Kranichen auf flachen Felsbalkonen.
Felsbalkone? Das ist Karlstens Stichwort. "Vrångö ist die Insel der Lotsen, seit dem 16. Jahrhundert halfen sie Schiffen aus dem Süden bei allen Unwettern durch das gefährliche Revier in den Hafen von Göteborg", erzählt er. Vor einer Schautafel zeigt er auf ein Foto von 1901 mit der Besatzung der "Emanuel": Auch sechs- oder siebenjährige Jungs mussten mit hinaus.
Vor einem alten Friedhof macht er Halt, zeigt auf die Grabplatten der Lotsen, erzählt: "Meine Ahnen leben hier seit dem Jahr 1532, das ist belegt, denn schwedische Kirchen führen Familienregister." 500 Jahre auf der eigenen Scholle sitzen - was für ein Gefühl mag das sein?
Verantwortlich für die Inseln
Für Håkan Karlsten reichte es, um zu dieser Scholle zurückzukehren. Auch wenn das Inselleben mitunter klaustrophobisch erscheinen mag: "Dass ich geschieden war, wussten alle anderen vor mir", bemerkt er. Für ihn ist es so natürlich wie selbstverständlich, zu leben, wo man herkommt. "Daher habe ich auch keine Angst vor heutigen Flüchtlingsströmen. Wir haben ja Raum und Möglichkeiten genug hier. Und irgendwann will jeder dahin zurück, wo er herkommt", sagt er.
Weil seine Familie einen so alten Stammbaum habt, gehören ihm auch 3,7 Prozent der umliegenden Inselchen. Dann ist Karlsten vielleicht am Ende der König von Vrängö? "Nein", sagt er knapp. Selbst wenn er das wäre - Angeberei oder sich für etwas Besonderes zu halten, das gilt laut dem Gesetz von Jante unter Skandinaviern als ziemlich uncool.
"Diese Felsinseln zu besitzen, heißt ja vor allem, für sie verantwortlich zu sein", ergänzt er. Und erzählt auf den letzten Metern des Rundgangs von den frühen Wikingern, von der berühmten Piratin Johanna Hård, deren Männer im 19. Jahrhundert ein Schiff ausraubten und dafür mit dem Tode bestraft wurden.
Johannas Haus ist eines der ältesten im Ort Vrångö, dahinter windet sich ein Pfad zum höchsten Punkt Insel auf 25 Metern hinauf und zum Wahrzeichen der Insel, eine winzige Ein-Raum-Hütte in Falunrot, "Lotsutkiken" genannt. Bis 1931 schauten die Lotsen von diesem Ausguck nach fremden Schiffen aus. Heute sind es die schweren Fähren der Reederei Stena Line, die am Horizont vorbeischippern. "Man kann die Uhr nach ihnen stellen", sagt Karlsten, während sich ein strahlender Sonnenuntergang in den schwedischen Nationalfarben Gelb und Blau über den Abendhimmel ergießt.
Franziska Horn ist freie Autorin bei SPIEGEL ONLINE. Ihre Reise wurde unterstützt von Kajkanten Vrångö, Göteborg & Co und West Sweden Tourist Board.
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