Doch, es gibt ihn wirklich: den Gletscherfloh. Er lebt im ewigen Eis, er tritt meist massenhaft auf und sein lateinischer Name ist Desoria saltans. Das possierliche Tierchen ist Namenspatron einer bekannten Ötztaler Wanderveranstaltung, die über einen der schönsten Übergänge der Alpen führt. Seit 1972 wird der hochalpine „Gletscherflohmarsch" alljährlich im August zwischen Orbergurgl und Vent ausgetragen; 2017 feierte die beliebte Sportveranstaltung ihr 45. Jubiläum.
Vom Start weg beste Aussichten
Es ist kurz vor acht Uhr, als ich den Startpunkt in Obergurgl passiere. Das ist spät. Die ersten Flohmärschler starten schon um sechs Uhr. Doch das Hotel-Frühstück mitsamt Ötztaler Granten war einfach zu gut. Das Dorf liegt noch in der Morgenruhe, die Gipfel sind wolkenverhangen, als ich vom Dorfplatz losmarschiere. Nach der Brücke über die Gurgler Ache zieht der Weg stetig höher. Das regelmäßige Steigen ist gut zum Warmlaufen, dabei wirkt die Sicht auf den Gurgler Ferner höchst motivierend. Vorbei geht es an der urigen Küppelehütte aus Naturstein, die sich in lauschige Bergwiesen duckt.
Eine Handvoll schwarzer Schafe grast am Wegrand, Murmeltiere pfeifen, schmale Bäche mit Schmelzwasser rauschen bergab. Wo Wasser ist, sind Menschen - so auch hier. Zu zweit, zu dritt machen sie in Grüppchen am Bach Trinkpause, halten einen kurzen Ratscher.
Wem man begegnet bei diesem Marsch? Menschen zwischen sechs und 77 Jahren. Da ist zum Beispiel ein Drei-Generationen-Team aus dem nahen Rietz im Oberinntal. Opa Manfred, Jahrgang 45, lief früher Marathon. Heute wandert er mit Tochter Evelyn und Enkelin Maria, 10 Jahre, erstmals beim Gletscherflohmarsch mit.
Er sagt: „Die Gehzeit spielt für mich keine Rolle. Es ist schön hier mit Murmeltierschauen und Stoana sammeln“. Neben schneidigen Trailrunnern trifft man ambitionierte Pärchen ebenso wie Genusswanderer oder ganze Familien mit Hund, Kind und Kegel.
Der Steig windet sich in Kehren höher, liefert verwegene Aussichten auf' s erste Etappenziel. Verwegen thront das Ramolhaus in 3000 m Höhe über der jäh abstürzenden Bergflanke. Wenn es frisch geschneit hat - nicht ungewöhnlich für den Spätsommer im Hochgebirge - , bietet sich dem Wanderer ein besonders reizvolles Bild. Wenn es dann wieder aufreißt und die Sonne die letzten Nebelschwaden und Schneereste wegbrennt, stehen sie fast schon königlich da, die frisch geweißelten Ötztaler Dreitausender in ihrem glänzenden Gewand.
Auf der Terrasse des Ramolhauses stempeln Ötztaler Helfer die Wanderpässe ab, tragen die Zeit ein und schenken Tee und Suppe aus heißen Thermoskannen aus. Die ersten kommen schon weit vor 8 Uhr morgens am Ramolhaus an.
Rund 200 Leute nehmen meistens am Gletscherflohmarsch teil. 20 Prozent von ihnen sind sehr gut trainiert, auch viele Ötztal-Urlauber machen mit. Eine kurze Rast muss sein, hier oben bei der Hütte, die Aussicht will genossen sein. Manch einer steigt schon jetzt aus dem Berglauf aus, denn die Sicht auf den Gurgler Ferner ist so überwältigend, dass man meinen könnte: „Schöner kann’s einfach nicht werden!“
Ich ziehe weiter, den Wegweisern nach, quere letzte Reste des Ramolferners, ein paar Gletschertische zieren das Eis. Kühl strahlt der Schnee von unten ab, von oben sticht die Sonne. Dann eine Kraxeleinlage, versichert geht es die letzten 80 Meter zum Joch hinauf. Hand an den Fels anzulegen macht richtig Spaß.
Vom Joch weht schon die rote Fahne – sie markiert mit 3200 m den Höhepunkt der Tour. Mit dem „Guggar“, dem Feldstecher, hocken einige Bergwachter in den Felsen, beobachten den Aufstieg der Flohmärschler im letzten Steilstück. Am Ramoljoch, begrüßen sie die Höhenwanderer und servieren als Belohnung gekühlten Obstler mit Blick auf die markante Wildspitze. Stolz steht sie da und grüßt aus der Ferne.
Ab jetzt geht's nur noch bergab: Teils über losen Schotter, dann über Blockgelände. Zur linken ruht ein kleiner Gletschersee im Spiegelferner, dann folgt ein langes Wegstück über Gestein hinunter nach Vent. Nach den Nichtfarben aus Stein, Schnee und Eis nimmt das Auge die Farbtupfer sensibel wahr: Im Vorbeigehen blitzt himmelblauer Schusternagel auf, daneben blüht blasslila der Deutsche Enzian. Den dritten Stempel kassiere ich auf dem beeindruckenden Aussichtsbalkon von Langeben.
Etwas tiefer döst Tiroler Grauvieh mit halb geschlossenen Augen in den Almwiesen, die Luft ist schwer vom Duft der Zirben und Wacholdersträuche, der Waldboden federt. Dann dringt Tschingderassassa vom Talboden herauf. Das sonst so stille Bergorf Vent feiert die Ankömmlinge mit Pauken und Trompeten. Jetzt ist es wirklich erreicht, das Ziel, nach 16 Kilometern und 1300 Höhenmetern. Zur Belohnung gibt‘ s das goldene Gletscherflohabzeichen, eine Urkunde, ein Foto – und den verdienten kalten Drink.
Es scheint fast unvorstellbar: Der Streckenrekord liegt bei knapp zwei Stunden. Er stammt aus den Zeiten vor dem Klimawandel, als man den Spiegelferner noch blitzartig auf dem Hosenboden hinunter rutschen konnte … Respekt, sagen wir und ganz stolz: Prost!
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