Seit 6.000 Jahren treiben die Schnalser Bauern ihre Schafe über hochalpine Gebirgspässe ins nördlich gelegene Ötztal ... und holen sie m Herbst nach Hause zurück – eine lange, manchmal gefährliche Reise für Mensch und Tier.
Im Herrgottswinkel der Stube vom Hochjochhospiz im hintersten Rofental des Innerötztals sitzen der Hans und der Hans. Oder besser, im Südtiroler Dialekt: der Hons und der Hons. Wobei nicht nur die Vornamen identisch sind, sondern auch die Nachnamen, zumindest beinahe. Die beiden heißen Niedermair und Niedermayer. Und beides sind Charakterköpfe mit gestrickten Joppen, karierten Hemden, mit blauen Arbeitsschürzen und Filzhüten, an denen der hinten angesteckte Buschn langsam verwelkt – Bergarnika, Wacholder, Almrausch. In der Hand einen Süßgspritztn, Limo mit Weißwein, feiern die beiden das heutige Tagwerk. Das heißt: rund 1.400 Schafe versprengte Schafe aus den hochalpinen Hängen zwischen Vernagthütte und Breslauer Hütte zusammenklauben, wo sie beim Sömmern etwa 100 Tage lang feinste Alpenkräuter rupften und zupften. Die Tiere halten das Gras kurz, was dafür sorgt, dass der erste Schnee nicht als Gleitlawine ins Tal rauscht – ein positiver ökologischer Nebeneffekt, den die vierbeinigen Landschaftsgärtner bewirken.
IMMER DEN AUSREISSERN HINTERHER
Es ist Anfang September. Noch reckt der imposante Hintereisferner seine Eiszunge schneefrei ins Rofental. Doch hier am Alpenhauptkamm ändert sich das rasch, schon kündet sich ein Wettersturz an. Vor der Hüttentür steht der dritte Hons im Bunde: Mit dem Guggar, dem Fernstecher, sucht der Vinz’n Hons die Flanken der gegenüberliegenden Kreuzspitze Meter für Meter nach hellen Punkten ab. Und wird fündig. Er flucht. Holt von drinnen den Niedermayer Hons, der mit seinem Hirtenhund erst einmal 200 Meter zur Rofenache absteigen muss, dann wieder 900 Meter hinauf, um die letzten Ausreißer zu holen.
So geht es tagelang, von frühmorgens bis in die Nacht, die Hänge rauf und runter, weglos, im Absturzgelände. Bei Wind und Regen, durch Schuttreißen und Kare, auf Gratrücken und aufgeweichten Grasflanken. Als der Niedermayer zurückkommt, ist es Nacht. Er wirkt aufgebracht: „D’Schof sein immer weiter nauf. Also hab i das Pamperl packt und bin runter, damit die Mutter hintn nachkommt. Aber die hot mi voll ogriffn, konnt grad no ausweichn. Sonst hätts mi die Felsn owaghaut.“ Auch tags darauf suchen die rund 20 Treiber mit ihren Hunden akribisch die Steilhänge und Mulden ab. Chef der Hirten ist der Vinz’n Will, eigentlich Willi Gurschler, aus dem Südtiroler Schnals. Elf Geschwister hat er und allein vier davon helfen beim großen Schaftreiben mit. Schon der Vater, der Weger Vinz’, ging zum Sömmern auf die Rofenbergalm, davor der Großvater.
1.400 SCHAFE AUF BERGTOUR
Seit 6.000 Jahren, so ist es belegt, treiben die Schnalser ihre Schafe auf zwei Routen ins nördliche Ötztal, vor Kurzem noch über Gletscher. Da es die welt weit einzige grenzüberschreitende Wanderwirt schaft ist, wurde sie 2011 ins immaterielle Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Was die wenigsten wissen: Das hintere Ötztal mit dem heutzutage österreichischen Bergsteigerdorf Vent gehörte bis 1826 zum Südtiroler Schnalstal. Bis heute teilen sich acht Schnalser Bauern die Weiderechte am Rofenberg, historisch bedingt seit einem Vertrag von 1415. Seit Urzeiten arbeiten Mensch und Hund zusammen bei dieser Tradition, ein ausgefeiltes Strategiespiel und mehr noch: schwere Arbeit. Mit nur vier, fünf Befehlen dirigieren die Hirten ihre perfekt trainierten Hunde. „Aui! Oi! Arret! Schleichn!“ Letzteres heißt: geduckt heranpirschen, lauern, die Zähne gefletscht. Widerspenstige Schafe riskieren schon mal einen kräftigen Wadenzwicker.
Dann ist es geschafft: Wie ein wogendes, weißes Meer aus Wolle, das stetig hin und her schwappt, stehen 1.400 Schafe am Hang, große wie kleine, helle, dunkle, gefleckte. Es ist ein lautes Bimmeln, Blöken und Bellen, ein Mähen und Meckern, wenn schließlich 5.600 Beine den Hang runter ins Gatter der Rofenbergalm trappeln. Geschafft – für heute! Die Hirten feiern ihren Etappensieg mit zwei, drei Stamperl Himbeergeist. Abends bringt Hüttenwirt Thomas Pirpamer heiße Suppe, feinen Tafelspitz und Kartoffelgratin auf den Tisch. Und Spinat, den keiner der Hirten anrührt. Es scheint, als ob sie alles, was Grün ist, lieber den Schafen überlassen. Ein Blick zu den Nebentischen zeigt: Hier prallen Welten aufeinander. Da drüben hocken Alpenvereinsgruppen in buntem Hightech-Gewand, mit teuren Höhenmessern und Karten planen sie Touren, berechnen Routen und Höhenmeter, hinüber auf Weißkugel, Fluchtkogel oder Finailspitze. Sie fühlen sich wie Eroberer der Ötztaler Berge. Die Hirten brauchen all das Gerät nicht – sie sind hier daheim. „Das Zammtreibn ist der schwerste Teil“, sagt der (...)
Zum Original
Im Herrgottswinkel der Stube vom Hochjochhospiz im hintersten Rofental des Innerötztals sitzen der Hans und der Hans. Oder besser, im Südtiroler Dialekt: der Hons und der Hons. Wobei nicht nur die Vornamen identisch sind, sondern auch die Nachnamen, zumindest beinahe. Die beiden heißen Niedermair und Niedermayer. Und beides sind Charakterköpfe mit gestrickten Joppen, karierten Hemden, mit blauen Arbeitsschürzen und Filzhüten, an denen der hinten angesteckte Buschn langsam verwelkt – Bergarnika, Wacholder, Almrausch. In der Hand einen Süßgspritztn, Limo mit Weißwein, feiern die beiden das heutige Tagwerk. Das heißt: rund 1.400 Schafe versprengte Schafe aus den hochalpinen Hängen zwischen Vernagthütte und Breslauer Hütte zusammenklauben, wo sie beim Sömmern etwa 100 Tage lang feinste Alpenkräuter rupften und zupften. Die Tiere halten das Gras kurz, was dafür sorgt, dass der erste Schnee nicht als Gleitlawine ins Tal rauscht – ein positiver ökologischer Nebeneffekt, den die vierbeinigen Landschaftsgärtner bewirken.
IMMER DEN AUSREISSERN HINTERHER
Es ist Anfang September. Noch reckt der imposante Hintereisferner seine Eiszunge schneefrei ins Rofental. Doch hier am Alpenhauptkamm ändert sich das rasch, schon kündet sich ein Wettersturz an. Vor der Hüttentür steht der dritte Hons im Bunde: Mit dem Guggar, dem Fernstecher, sucht der Vinz’n Hons die Flanken der gegenüberliegenden Kreuzspitze Meter für Meter nach hellen Punkten ab. Und wird fündig. Er flucht. Holt von drinnen den Niedermayer Hons, der mit seinem Hirtenhund erst einmal 200 Meter zur Rofenache absteigen muss, dann wieder 900 Meter hinauf, um die letzten Ausreißer zu holen.
So geht es tagelang, von frühmorgens bis in die Nacht, die Hänge rauf und runter, weglos, im Absturzgelände. Bei Wind und Regen, durch Schuttreißen und Kare, auf Gratrücken und aufgeweichten Grasflanken. Als der Niedermayer zurückkommt, ist es Nacht. Er wirkt aufgebracht: „D’Schof sein immer weiter nauf. Also hab i das Pamperl packt und bin runter, damit die Mutter hintn nachkommt. Aber die hot mi voll ogriffn, konnt grad no ausweichn. Sonst hätts mi die Felsn owaghaut.“ Auch tags darauf suchen die rund 20 Treiber mit ihren Hunden akribisch die Steilhänge und Mulden ab. Chef der Hirten ist der Vinz’n Will, eigentlich Willi Gurschler, aus dem Südtiroler Schnals. Elf Geschwister hat er und allein vier davon helfen beim großen Schaftreiben mit. Schon der Vater, der Weger Vinz’, ging zum Sömmern auf die Rofenbergalm, davor der Großvater.
1.400 SCHAFE AUF BERGTOUR
Seit 6.000 Jahren, so ist es belegt, treiben die Schnalser ihre Schafe auf zwei Routen ins nördliche Ötztal, vor Kurzem noch über Gletscher. Da es die welt weit einzige grenzüberschreitende Wanderwirt schaft ist, wurde sie 2011 ins immaterielle Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen. Was die wenigsten wissen: Das hintere Ötztal mit dem heutzutage österreichischen Bergsteigerdorf Vent gehörte bis 1826 zum Südtiroler Schnalstal. Bis heute teilen sich acht Schnalser Bauern die Weiderechte am Rofenberg, historisch bedingt seit einem Vertrag von 1415. Seit Urzeiten arbeiten Mensch und Hund zusammen bei dieser Tradition, ein ausgefeiltes Strategiespiel und mehr noch: schwere Arbeit. Mit nur vier, fünf Befehlen dirigieren die Hirten ihre perfekt trainierten Hunde. „Aui! Oi! Arret! Schleichn!“ Letzteres heißt: geduckt heranpirschen, lauern, die Zähne gefletscht. Widerspenstige Schafe riskieren schon mal einen kräftigen Wadenzwicker.
Dann ist es geschafft: Wie ein wogendes, weißes Meer aus Wolle, das stetig hin und her schwappt, stehen 1.400 Schafe am Hang, große wie kleine, helle, dunkle, gefleckte. Es ist ein lautes Bimmeln, Blöken und Bellen, ein Mähen und Meckern, wenn schließlich 5.600 Beine den Hang runter ins Gatter der Rofenbergalm trappeln. Geschafft – für heute! Die Hirten feiern ihren Etappensieg mit zwei, drei Stamperl Himbeergeist. Abends bringt Hüttenwirt Thomas Pirpamer heiße Suppe, feinen Tafelspitz und Kartoffelgratin auf den Tisch. Und Spinat, den keiner der Hirten anrührt. Es scheint, als ob sie alles, was Grün ist, lieber den Schafen überlassen. Ein Blick zu den Nebentischen zeigt: Hier prallen Welten aufeinander. Da drüben hocken Alpenvereinsgruppen in buntem Hightech-Gewand, mit teuren Höhenmessern und Karten planen sie Touren, berechnen Routen und Höhenmeter, hinüber auf Weißkugel, Fluchtkogel oder Finailspitze. Sie fühlen sich wie Eroberer der Ötztaler Berge. Die Hirten brauchen all das Gerät nicht – sie sind hier daheim. „Das Zammtreibn ist der schwerste Teil“, sagt der (...)
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