Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

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Gipfel aus Satellitensicht: Die Vermessung der Bergwelt - SPIEGEL ONLINE

Noch ein Buch über Berge. Was kann es, das andere nicht können? Der Bildband "m4 Mountains - die vierte Dimension" zeigt 170 Ansichten von Gebirgen, von schneebedeckten Gipfeln vor blauem Himmel. Doch auch wenn sie auf den ersten Blick so wirken: Es sind keine Fotos, sondern fotorealistische Darstellungen, errechnet aufgrund von Messdaten, die dank Satellitentechnik gesammelt wurden. Werden diese Ansichten die Welt des Bergsteigens verändern?


"Wir zeigen sozusagen Berge in Bewegung, die man in wenigen Sekunden umrunden und visuell erfassen kann. Das schafft keine Fotokamera", sagt Reinhold Messner, Co-Autor des 220-Seiten-Buches aus dem Piper Verlag. Forscher am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) erstellten die dreidimensionalen Bilder der 13 Gipfel, die der Südtiroler Bergsteiger ausgewählt hat - ob Denali oder Dhaulagiri, Mont Blanc oder Mount Everest. Messner wiederum steuerte die Geschichte ihrer Besteigung bei: "Erst der Mensch gibt dem Berg seinen Wert, seine Geschichte und seine Bedeutung " - seine vierte Dimension.

Plastisch offenbaren die Abbildungen jede Gesteinsfalte, jede Felswand, jeden Gratzacken - und setzen die Leistungen von Extrembergsteigern in ein neues Licht. Es scheint, als ob man die Welt erst aus dem All beobachten muss, um sie am Ende wie unter dem Mikroskop ansehen zu können. Abschreckend und anziehend gleichermaßen ragt beispielsweise der Gipfel des K2 wie ein übermächtiger Kreuzschlitz-Schraubendreher von einer Doppelseite auf, während seine Grate in alle Himmelsrichtungen talwärts stürzen.


Vom Satellitenbild zur 3D-Darstellung

Mit dem K2, dem wohl schwierigsten aller Achttausender-Gipfel, begann vor sechs Jahren die Entstehungsgeschichte dieses ungewöhnlichen Werkes. Autor Stefan Dech ließ sich von dem Vortrag der Alpinistin Gerlinde Kaltenbrunner über ihren K2-Versuch fesseln. Sie erzählte, wie ihr Seilgefährte Fredrik Ericsson vor ihren Augen in den Tod stürzte. Dech, Direktor des Fernerkundungsdatenzentrums (DFD) am DLR, hatte eine Idee.

Er wollte für die Österreicherin ein 3D-Modell des Karakorum-Gipfels erstellen, das alle möglichen Routen aufzeigt. "Die Achttausender sind mit ihren extremen Kontrasten aus überstrahlten Schneeflächen und dunklen Schatten schwierig darzustellen und daher ein gutes Experimentierfeld. Für diese Fallstudie wollte ich ein neues Verfahren testen", sagt Dech. Das Prozedere ist aufwendig: Die französischen Pléiaden-Satelliten zeichnen beim Überfliegen jeden Berg aus unterschiedlichen Perspektiven auf - etwa zur gleichen Zeit und bei wolkenfreiem Himmel. Die DFD-Wissenschaftler in Oberpfaffenhofen lassen am Computer aus den Aufnahmen Geländemodelle entstehen und daraus dreidimensionale, virtuelle Darstellungen.


Bevor Kaltenbrunner 2011 zum vierten Mal zum K2 aufbrach, besuchte sie Dech in seinem Animationslabor und erlebte das gerade neu kartografierte Modell. "Die Qualität der Aufnahmen war fast unfassbar (...) und eine große Hilfe für die Expedition", schreibt Kaltenbrunner. Durch den Einblick in die Route habe sie genauer einschätzen könne, was auf sie zukam. Tatsächlich erreichte die Alpinistin am 23. August den Gipfel des K2 und damit als erste Frau alle Achttausender der Erde ohne Hilfe von Flaschensauerstoff.

"Möglich oder unmöglich? Diese Frage steht vor jeder Erstbesteigung, vor jeder neuen Route - bis heute", sagt Reinhold Messner. Hätten diese gestochen scharfen Motive, deren Aussage jedes Kartenmaterial übertrifft, etwas in seiner Bergsteigerlaufbahn geändert? "Ich denke schon. Ich hätte andere Routen gesehen als die, die ich anhand von Fotos oder vor Ort ausmachen konnte", sagt der 72-Jährige.


Messner: "Der Zauber geht verloren"

Einst war eben jener "Aufbruch ins Ungewisse", so nannte Kurt Diemberger sein gleichnamiges Buch, mitsamt Unwägbarkeit und Risiko ein Teil der selbstgewählten Aufgabe. "Der Blick auf die Berge aus dem Weltraum verändert das Bergsteigen wesentlich", sagt der heute 84-jährige österreichische Alpinist, der mit Broad Peak und Dhaulagiri zwei Achttausender als einer von zwei Menschen erstbestiegen hat.

Durch Drohnen erstellte Daten und detaillierte Wetteransagen minderten das Risiko und erhöhten die Gipfelchancen, sagt er. Schmälert die hochgenaue Kartografierung von heute somit die Leistung? Nein, sagt Diemberger, "es hängt letzten Endes immer noch vom Menschen und von seinem Können ab, was dann wirklich geschieht. Auch wenn das Ungewisse jetzt nicht mehr so ungewiss ist wie früher", sagt er. "Bald ist fast alles aufgeschlüsselt", sagt auch Messner. Ihm ist das Ausgesetztsein in der Natur wichtig, die aber "geht immer mehr verloren. Mit ihr das Abenteuer, der Zauber und das Geheimnis."

Könnte allerdings das neue Verfahren überhaupt für das Höhenbergsteigen eingesetzt werden? "Für eine kommerzielle Nutzung ist die dreidimensionale Kartierung nicht gedacht", sagt Dech, der das Buchprojekt als Nebenprodukt seiner Arbeit beschreibt. "Einen einzelnen Berg aufzuzeichnen, kostet zwischen 5000 und 10.000 Euro, dazu kommt die Verarbeitung bis hin zur fertigen Collage."


Google Earth statt DFD-Material

Der Bildband endet mit einem Kapitel über die heutige Generation der Extrembergsteiger: Im Mai 2014 probierten die Österreicher Hansjörg Auer, 32, David Lama, 26, und Peter Ortner, 33, eine neue Route in der Nordostwand des 7821 Meter hohen Masherbrum im Karakorum. Hohe Lawinen-, Stein- und Eisschlaggefahr, darüber steht eine 3000 Meter hohe, zuletzt konkave Wand.

Wie haben die drei Kletterer sich vorbereitet - mit 3D? "Nein", sagt Auer, "aber natürlich schöpfen wir alle Möglichkeiten der Information aus, um so wenige Fragezeichen wie möglich im Rucksack zu haben. Ich vergleiche Erfahrungsberichte mit Fotos aus unterschiedlichen Jahren und nehme Satellitenbilder von Google Earth dazu. Die geben eine gute Übersicht über große Systeme wie Rinnen, Eisfelder, Flachstufen und Grate."

Das letzte Wort hat jedoch - wie immer - der Berg. Vor Ort entgingen die drei knapp Lawinen und mussten umkehren. "Wir werden es wieder versuchen", sagt Auer. Die Konfrontation Mensch-Berg geht also weiter. Mit oder ohne Hightech-Mittel.

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