Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

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Artikel

Architekt Volkwin Marg: Der Visionär von der Waterkant

Perspektivenwechsel – für den Architekten Volkwin Marg von Deutschlands größtem Büro gmp ist das eine Notwendigkeit.

Flagge zeigen – an Bord, im Berufsleben und als Mensch: Volkwin Marg ist ein Mann mit Werten und Standpunkten. 1965 gründete er gmp. Deutschlands größtes Architekturbüro baut weltweit Stadien, Bahnhöfe und Flughäfen. Margs Entwürfe sind vom Wasser geprägt, privat restauriert er Nutzschiffe.

Ortstermin in Hamburg-Othmarschen. Das Privathaus von Vokwin Marg, Jahrgang 1936, steht nur ein paar Steinwürfe vom Elbufer entfernt. Das Wasser, das Meer und Schiffe überhaupt bilden ein Leitmotiv in Margs Leben. Das beweisen Großprojekte wie das chinesische Maritim Museum in Schanghai – und das beweisen die maßstabsgetreuen Modelle und Fotografien der Marg'schen Schiffe, die den Gast schon im Entrée des Hauses begrüßen und sich dann über drei Stockwerke des Hauses verteilen. "In 40 Jahren habe ich eine ganze Flotte von Gebrauchsbooten restauriert", sagt er amüsiert.


Volkwin Marg, im mittelgrauen Anzug und hellem Hemd, geht sofort in medias res. Vor dem Spanten-Modell einer Venezianischen Gondel im Erdgeschoss bleibt er stehen, daneben eine skulpturhafte, hölzerne "Forcola", eine Gabel in Originalgröße. Wie ein "pars pro toto", ein Teil für's Ganze steht sie für das Credo des Hamburger Architekten – eine handwerklich meisterhaft ausgearbeitete Form, die vollendet ihrer Funktion folgt. "Die Gondel ist der einzige Schiffstyp weltweit, der asymmetrisch gebaut ist. Wissen Sie, warum?", fragt er. "Damit sie einen einseitigen Vortrieb erzeugt und leicht steuerbar um die Ecken der Palazzi durch die Kanäle gleitet", erkärt er dann. Form ist vor allem dann gut, wenn sie funktioniert, was wiederum stimmige Proportionen und eine klare Ästhetik mit sich bringt, die jeder versteht – ganz intuitiv.


Dann ist da noch das Schiffsmodell von "Marie", eine holländische Tjalk mit Seitschwert. "Ein mittelalterlicher Schiffstyp, der auf Flüssen und auf dem Ijsselmeer fährt", erklärt Marg. "Von Anfang an habe ich segelnde Nutzfahrzeuge restauriert. Die "Marie" (??) war schon umgeriggt, als ich sie fand, leider falsch. Also hab ich sie wieder so aufgeriggt, wie sich das gehörte, damit sie wieder läuft. Man merkt schnell, welches die ursprünglichen, richtigen Proportionen sind. Und wenn die Proportionen stimmen, ist das Objekt auch ästhetisch schön". (1600) Diese Wahrheit hat Marg im Schiffbau gelernt, sie bestimmt sein berufliches Leben.


Deutschlands größtes Architektenbüro gmp wurde 1965 von Volkwin Marg und Meinhard von Gerkan gegründet. Heute zählt das Büro über 500 Mitarbeiter in 14 Dependancen. Es realisiert Großprojekte auf vier Kontinenten der Erde. An die 600 Architekturpreise listet gmp. Bekannt ist das Büro vor allem für seine Fußballstadien – in Durban und Kapstadt, in Brasilia, Manaus und Belo Horizonte, in Shanghai und Shenzen. Außerdem gilt Marg als geistiger Vater der Hafencity Hamburg. Sein größtes Projekt ist Lingang New City, eine chinesische Trabantenstadt für 800.000 Menschen, die einmal auf 1,5 Millionen Einwohner anwachsen soll.


Auf seinem Schreibtisch hat Volkwin Marg Fotoprints ausgebreitet. Sie zeigen sagenhafte Naturaufnahmen von diversen Grönland-Expeditionen – mittendrin die "Activ von London", Margs größtes Schiff, das hier im angestammten Revier segelt:1976 kaufte er den ehemaligen dänischen Salzfrachter von 1951 und restaurierte ihn fünf Jahre lang. Der stolze Dreimast-Toppsegelschoner hat 42 Meter Länge über alles. Mit gesetzten Segeln in voller Fahrt transportiert die "Activ" ein lebendiges Bild vergangener Zeiten, so majestätisch, mächtig und stark, wie wir es höchstens aus Kino und TV kennen. Buchstäblich, denn die "Aktiv" diente bereits in den 80er Jahren als Protagonistin für die Piraten-Serie "Jack Holborn", später als Modell für die Beck's Bier-Werbung und zuletzt für den Hollywoodstreifen "Moby Dick". Ein Schiff voll Geschichte und Geschichten also. Die man bald nachlesen kann: "Meine Tochter ist Kommunikationsdesignerin", sagt Marg. "Aktuell bereitet sie ein Buch über die "Activ" vor, das im Oktober bei Delius Klasing erscheint."


Auf diversen Expeditionsfahrten nach Grönland entstand auch der Dokufilm "Bis ans Ende der Welt." Mit einem Team aus Wissenschaftlern und Künstlern, die Marg für diesen interdisziplinären Forschungstörn versammelte, verfolgte er 2008 die Route der berühmten "Danmark Expedition" von 1908, fuhr trotz Eisdrift und Packeis hinauf zur Halbinsel Germanialand, auf den Spuren des Deutschen Alfred Wegener, der als erster Meteorologe überhaupt gilt. Seine "Nordostgrönland Ekspeditionen 2011" hat Marg in einem beeindruckenden Bildband dokumentiert, darin Aufnahmen von einem fliegenden Schlauchboot hoch über der Bucht mit eisblauem Wasser, in dem die Aktiv schwimmt. "Dieses Schlauchboot fliegt bis 2000 Meter hoch. Ist schon ein bisschen gefährlich, wir sind auch zwei Mal abgestürzt damit", sagt er ungerührt und wirkt dabei kein bisschen wie ein Draufgänger. "Die Berge, die Buchten, die Eisberge – Grönland hat Dimensionen, die kann man sich nicht vorstellen, wenn man sie nicht erlebt hat!". Wer ist dieser Mann, der so viel bewegt hat, noch immer bewegt? Woher diese Leidenschaft für die Natur, das Meer, die Schiffe?


"Es war von Anfang an eine reine Lustfrage", sagt er schlicht. Die früh begann. Obwohl seine Familie mit Schiffahrt nichts am Hut hatte. Marg wurde in der Hafen- und Hansestadt Danzig, Ostpreußen, geboren. Sein Vater war Pfarrer an der Marienkirche in der Altstadt Danzig, die Familie wohnte in der Frauengasse. Als Kind schwänzte er die Schule, um die Frauengasse hinunter zu laufen zum Fluss Mottlau am Hafenbecken. "Jedes Schiff kannte ich damals. Ich liebte den wunderbar warmen Mief aus aus Dampf und Kohle aus den Maschinenräumen der Dampfer, unten sah man im Schiffsbauch die Maschinisten mit dem Ölkännchen die blitzenden Teile ölen". Nach 14 Tagen flog das Schuleschwänzen auf. "Die folgende Portion Dresche hatte ich einkalkuliert – sie es wert", lacht er. In den Ferien beobachtete Klein-Volkwin die Kuren- und die Keitelkähne rund um Königsberg. "Das waren schwärzliche, mit Holzteer imprägnierte Binnenwasserschiffe mit Seitschwertern und Flögeln". Wenn der Architekt erzählt, klingt das so lebendig und detailreich, als ob es gestern gewesen wäre.


Marg zeigt auf einen zweiten Bildband auf seinem Schreibtisch, der die Reederei J. Ring Andersen aus Svendborg porträtiert – die letzte ihrer Art in Dänemark. Ob er jemals Schiffbau studiert hat? "Nein, das hab ich nie!", sagt er. "Ich war ein neugieriges Kind, das gerne ausbrach. Ich trollte mich, da musste man schon aufpassen", erinnert er sich. In den letzten Kriegsjahren floh die Familienach Thüringen, dann nach Mecklenburg. "Da war ein kleines Rinnsal, ein Flüsschen. Mit zwölf Jahren kam ich auf die Idee, mir ein Schiff zu bauen. Von den Gesellen einer Stellmacherei für Pferdewagen und Räder bekam ich Holz und Planken und baute los. Mit 13 folgte das erste Paddelboot. Später fand ich einen Motor, der von einer Mähmaschine übrig war. Und mit Hilfe eines Buches über venezianische Pinassen hab ich das erste Motorboot gebaut!". (6661)


Zur Konfirmation wünschte er sich ein Päckchen Messingschrauben von den Tanten im Westen. "In der DDR gab es ja nichts. Leider waren es zu wenige, so dass ich das nächste Boot nicht richtig abdichten konnte. Darum leckte es immer." Er baut es in den Ferien im Konfirmandensaal, wo es über Kopf steht. "Wenn man die Planken zudrehte, war das eine unglaublich sinnliche Erfahrung. Ich bin nachts aufgestanden, um über das Holz zu streichen, eine tolle Erfahrung. Durch die Technik des ,Strakens', entsteht auch die hydrodynamische Form. Für das Deck habe ich dann heimlich die Sperrholz-Rückwände von Buchregalen rausgeschraubt, die im Amtszimmer meines Vaters standen". Not macht kreativ. Mit 17 besitzt Marg ein Motorboot und zwei Paddelboote – und ist der Star auf dem kleinen Fluss. "Meine Lust, etwas zu bauen und schaffen, ist danach immer weiter gegangen."

1957 flieht er nach West-Berlin, wo er Architektur studiert. Er setzt das Studium in Braunschweig fort – und in Delft, wo er das "maritime Milieu" wieder entdeckt. "Das war so ein Graugans-Effekt, der alte Gefühle neu ausgelöst hat, da kam plötzlich diese Urprägung durch. Ich war wieder am Wasser!". Deshalb geht er nach beendetem Studium nach Hamburg, wo er mit Meinhard von Gerkan das Architekturbüro gmp gründet. Der maritime Stil der heutigen Zentrale ist übrigens einem Dampfer nachempfunden. Im Hafen entdeckt er eine heruntergekommene holländische Tjalk. Er kauft die "Marie", baut sie um, riggt sie neu. Ein Jahr später folgt Skutsje "Fortuna", er kauft sie ebenso und gibt ihr die ursprüngliche Façon zurück. 1976 findet er den Dreimaster "Activ" – er wird zum Meisterstück. Aus einem dänischen Mastenwald erhält er 100-jährige Douglasien, um die 30 Meter lange Kernmasten zu ersetzen. Marg perfektioniert seine Kenntnisse, mit gewachsenem Holz umgehen. "Schiffe bauen, das ist eine Begegnung mit der Natur und mit dem Handwerk, das hat macht tiefen Sinn und ist im Grunde das eigentliche HiTech mit natürlichen Materialien, übermittelt als Tradition, da liegen einige zehntausend Jahre Erfahrung drin", sagt er. "Über meine Baulust und die Sinnlichkeit dieses Handwerks habe ich auch die ästhetische Stimmigkeit gelernt. Genau das fasziniert mich als Architekten bis heute. Wenn Konstruktion und Form perfekt zusammen passen, glänzt eine Art von Schönheit auf, die man auch ganz intuitiv versteht" sagt er und vergleicht diese stimmige Schönheit mit dem kunstvollen Bau einer Stradivari – oder dem "Ricercare" von Bach.


Auch vom Meer hat er viel gelernt. "Es ist die Größe der Natur, die einen demütig werden lässt.

Beim Wache gehen erfährt man die Zeit und zwar in der typischen Vierstundenteilung des Tages, erlebt den Sonnenauf und -untergang, alle Stufen der Dämmerung, ständige Lichtwechsel. Und den Sternenhimmel in einer nicht überblendenden Totalität, die ist einzigartig, da sind alle Sinne geschärft". Weit draußen auf dem Wasser findet er außerdem eine Qualität, die selten geworden ist: "Man ist raus aus dem Reglement des Alltags, raus aus allen Vorschriften und ganz auf sich selbst gestellt". Und dann hat das Segeln für ihn noch eine andere Funktion: "Es ist ein sozialer Kristallisationspunkt. Ich habe jetzt 40 Jahre lang alle Leute besoffen gemacht vor Begeisterung, Familie wie Freunde. Warum? Weil man innen drin sitzt wie auf einer Berghütte, wo der Kamin knistert, der eine kocht, der andere macht dies oder jenes. Dazu das Landschafts- und Naturerlebnis, das ist nicht zu toppen".


Margs Leidenschaft für Schiffe und das Meer ist heute ebenso stark wie in der Kindheit. Wenn er von "seinen" Schiffen spricht, blitzen die blauen Augen unternehmungslustig, erscheinen die Boote lebendig wie Persönlichkeiten, die längst zur Familie gehören. Er ist längst ein Meister der "architectura navalis". Das sportive Hochleistungssegeln auf "modernen Rennziegen", so nennt er Highend-Yachten also, hat Volkwin Marg dabei nie interessiert. "Ich segele nicht, um in einer Regatta am höchsten am Wind segeln zu können, mit größter Geschwindigkeit, um als erster anzukommen. Ich liebe Gebrauchsfahrzeuge, die für Fracht, Menschen und bestimmte Routen gemacht und geriggt sind. Dann segelt man los – und es gibt es nur noch Himmel, Wind, Seegang, Kurs gegen Windrichtung".


Aus Liebe zu den alten Gebrauchsbooten hat Volkwin Marg 1976 den Museumshafen Övelgönne gegündet, als ersten Europas, nur einen Steinwurf vom gmp-Büro an der Elbe entfernt. Hier liegen ausgediente Arbeitsschiffe von 1880 bis 1960. Fachmännisch restauriert erzählen die Zeitzeugen authentisch von der Nordsee- und Elbschiffahrt. Der Hafen hat längst Schule gemacht. "Nach seinem Vorbild gibt es heute zwei Dutzend Museumshäfen!", berichtet Marg. Ein Mausoleum soll das Museum dabei nicht sein, alle Boote sind im Einsatz. Auch Margs Tjalk "Fortuna" tummelt sich hier, neben Schaluppen, Barkassen und Besan-Ewer. Auch der markante Hochseekutter "Präsident Freiherr von Maltzahn", ein Dampfeisbrecher, ein Feuerschiff, eine Dampffähre und Hafenschlepper erleben hier ihre zweite Karriere.


Das nächste Törnziel? Steht an: Marg schwärmt von der Rum-Regatta in Flensburg: "Ein echtes Elefantenrennen, da läuft das Nashorn neben Elefant, Schildkröte, Schlange, daneben schnelle, flitzige Dinger, rund 100 Gebrauchsfahrzeuge aller Bautypen und Größen im Originalzustand. Und plötzlich füllt sich die Flensburger Förde, wirkt wie vor 100 Jahren. Was für ein Bild! Und immer verschieden, mal treibt man bei Nebel und Windstille herum wie Heu, mal kreuzt man bei starkem Westwind wild durcheinander – und es geht immer gut!", lacht er. "Im Grunde ist das eine Mischung aus Nostalgie, Denkmalschutz und einer alternativen Art von sportlicher Lust!", sagt er und serviert dem Gast ein zweites Glas schwarzen Tee mit Kandiszucker.

 

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