Franziska Horn

Autorin. Freie Journalistin, München

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Extrem-Abenteuerer Erling Kagge: "Jeder muss seinen eigenen Südpol finden"

Als erster Mensch hat der Norweger Erling Kagge die drei Pole erreicht: Nordpol, Südpol, Everest.

Erling Kagge ist Norweger. Und ein Mann mit vielen Etiketten: Pionier, Abenteuerer, Freigeist, Jurist, Verleger, Autor und Kunstsammler. Vor allem hat er als erster Mensch die drei Pole der Erde erreicht: Nordpol, Südpol, Everest. Wie alles begann? Mit seiner Leidenschaft fürs Segeln und für's Meer …

Würde man die gesamte Küstenlinie Norwegens ausmessen, all seine Fjorde, Buchten und Inseln aneinander reihen, ergäbe das eine Gesamtänge von 101.000 Kilometern. Ein sagenhaftes Band, das zweieinhalbmal um die Erde reichen würde. Wasser plus Entdecker-DNA, so ungefähr könnte die norwegische Erfolgs-Formel lauten: Von diesen Küsten starteten die Wikinger, neue Kontinente zu erobern. Die Liste nordischer Entdecker ist lang – und endet nicht erst bei Thor Heyerdahl. "Schon als Kind war ich ein großer Bewunderer von Heyerdahl", sagt Erling Kagge, Jahrgang 1963. "Eines der ersten Bücher, das ich las, war ein Bericht über seinen Trip 1947 auf der Kon-Tiki von Callao, Peru, zu den Tuamotu Inseln in Polynesien", erinnert sich Erling Kagge.


Was Kagge damals noch nicht weiß: Bücher werden in seinem Leben eine besondere Rolle spielen. Ebenso das Entdecken, das Austesten und Verschieben eigener Grenzen, das Ausprobieren von Neuem. Dabei scheint ihm das Outdoor-Gen anfangs nicht in die Wiege gelegt: Erling stammt aus einer Familie von Intellektuellen, der Vater ist Jazzjournalist, die Mutter Verlagdirektorin, er hat zwei Brüder. Mit den Eltern geht er auf Tagestouren, wie fast alle Norweger. Doch Erlings Faszination beschränkt sich nicht nur auf eine gewisse Leidenschaft für die Natur. Er weiß: Um in der Wildnis zu bestehen, muss man sich selbst überwinden können: "Heyerdahl hatte tiefe Angst vor Wasser, nachdem er als Kindbeinahe zwei Mal ertrunken wäre. Nichtsdestotrotz träumte er davon, den Pazifik auf einem Floß zu überqueren", sagt Kagge. 1983, mit 20 Jahren, segelt Jurastudent Kagge in einem kleinen Boot über den Atlantik: Von den Kapverden bei Westafrika nach Barbados, wo er nach zwei langen Wochen vom Boot springt, um die Füße auf terra ferma zu setzen. Im Jahr darauf, 1984, überquert er den Atlantik in der Gegenrichtung, segelt von der Karibik nach Oslo – auf einem Schiff ohne Motor, ohne Kühlschrank, ohne Ofen oder funktionierende Toilette. "Gerade diese Einfachheit habe ich sehr geliebt, das Klarkommen mit dem Allernötigsten", sagt er. Technikverliebt klingt anders.


Zwei Jahre später segelt er von der Antarktis nach Bermuda, zu den Galapagos-Inseln und umschifft Kap Hoorn. "Es geht darum, heraus zu finden, wer man ist und was man kann, physisch oder mental", sagt er. Und: "Bei allem, auch auf dem Ozean, ist es die bahnbrechende Schönheit der Natur, die einen immer weiter treibt." Zurück in der Heimat schließt er sein 1989 sein Jura-Studium an der Universität von Oslo ab. Kagge erinnert sich: “Seit dem Frühjahr 1987, als ich von einem Segeltrip in die Antarktis zurück kam, war ich fest entschlossen, in polare Regionen zurück zu kehren." Er hat neue Pläne. Doch jetzt verlegt er sich vom flüssigen auf's feste Element: Das Eis. Ziel ist der Nordpol. Mit zwei Freunden startet er am achten März 1990 auf Skiern von Ellesmere Island, Kanada, in Richtung Norden. 58 Tage später, am vierten Mai 1990, erreicht die Expedition nach 800 Kilometern den Pol, mit reiner Muskelkraft, ohne Depots oder Fremdversorgung, das Gepäck ziehen sie in Pulkas mit. Bei Temperaturen um die minus 50 Grad. Der Trick dabei? "Du musst perfekt vorbereitet sein!", sagt Kagge schlicht.


In seinem Buch über die Expedition schreibt er später: "Über das See-Eis zu laufen fühlt sich an wie auf einem Wasserbett. Salzwassereis ist viel elastischer – es schwingt mit". An guten Tagen schaffen sie 30 Kilometer, an schlechten zwölf, nachts werden sie ganze Meilen vom Kurs abgetrieben. Als sie glauben, die Reviere der Eisbären längst hinter sich gelassen zu haben, passiert es: Nur 20 Meter entfernt steht ein Exemplar, senkt den Kopf, pirscht heran. Sie ziehen die Waffen. "Um gut treffen zu können, muss der Bär so nah wie möglich kommen. Und das wiederum bedeutet: Der erste Schuss muss sitzen." Kagge und Kamerad Børge Ousland feuern. Mit Erfolg: Einer der Schüsse trifft. Die Reise geht weiter. Knapp drei Jahre später zieht Kagge alleine los, diesmal zum Südpol. Ohne Unterstützung und ohne jeden Kommunikation nach außen – die Batterien seines Funkgeräts hat er gegen den Willen des Sponsor weg geworfen – schafft er die 1340 km in 52 Tagen – und landet mit dieser Aktion im März 1993 auf dem Cover des Time Magazine.


Zuhause in Oslo arbeitet Kagge als Anwalt, bereitet sich weiter vor – er weiß, er hat jetzt die reale Chance, den Hattrick zu schaffen: Als dritter Pol der Erde bezeichnet der Mount Everest die höchste Extremität der Erde. Noch hat niemand die Drei-Pole-Challenge im Tourenbuch. Zu diesem Zeitpunkt gilt sie als eine der schwierigsten Herausforderungen überhaupt. Zusammen mit den bekannten Bergsteigern Rob Hall und Scott Fischer, die zwei Jahre später beim großen Everest-Unglück im Mai 1996 umkommen (beschrieben von Jon Krakauer im Megaseller "Into thin air"), macht sich Erling an das Wagnis. Sich selbst betrachtet er eher als Läufer denn als Kletterer. Auch dieses Projekt gelingt: 1994 erreicht er den Gipfel Everest zu Fuß und ohne Fremdhilfe. "Das war vor allem ein Stück harte Arbeit. Diesen Berg zu besteigen, heißt, deine Fähigkeiten bestmöglich einzusetzen, die eigene Schwäche zu akzeptieren und das beste daraus zu machen". Wie es sich anfühlte, dort oben zu stehen? "Absolut fantastisch, natürlich. Obwohl ich mich fragte: Wie zur Hölle komme ich hier wieder runter?"


Dass es nicht die reine Leidenschaft für die Schönheit der Natur ist, die ihn auf den höchsten Berg des Planeten getrieben hat, gibt er zu. "Natürlich ist der Everest eine Trophäe, auch wenn manche gern andere Gründe vorschieben wie die Rettung der Umwelt oder so etwas. Ich denke: Dort hinauf geht man zuerst einmal für sich selbst, erst dann für andere Ziele. Aber es freut mich, wenn ich andere motivieren kann, selbst aufzubrechen. Denn darum geht es: Sich persönliche, eigene Ziele zu setzen und diese zu erreichen. Jeder kann seinen ganz persönlichen Südpol finden". Den Weg des geringsten Widerstands lehnt Kagge damit klar für sich ab: "Ich finde, man sollte dort über den Zaun springen, wo er am höchsten ist. Dort, wo es am schwierigsten ist und eine Herausforderung bedeutet."


Den Platz in der Liste der Weltrekorde hat Kagge nun, im Alter von nur 32 Jahren, sicher. Das große Ziel ist erreicht. Was jetzt? Noch ein Rekord? Nein. "Expeditionen wie diese bringen eine hohe Eigendynamik mit sich: extreme Kosten, Sponsoren, Vorträge, Vorbereitungen. Aus dem Projekt wurde zeitweise so etwas wie ein Job. Ich brauchte eine Pause". Nach dem Erreichen der entferntesten Punkte geht Kagge nach innen, plant ein Sabbatical. Und ja, für ihn gibt es einen direkten Link zwischen Natur und Philosphie: Für drei Semester zieht er sich nach Cambridge zurück, studiert die großen Philosophen. "Ich wollte mehr über mich und die Welt heraus finden. Vor allem über mich", erklärt er. Sein Favorit ist der Niederländer Spinoza. Warum? Welch Frage. "Weil er am schwierigsten zu verstehen ist. Als ich ihn das zweite Mal las, habe ich noch weniger verstanden als beim ersten Mal. Aber ich mag auch Heidegger und Wittgenstein und was sie über die Stille schreiben".


Ein ganzes Jahr widmet er den großen Denkern, ihrer Sicht auf das Leben aus verschiedenen Perspektiven. Er kehrt nach Oslo zurück, mit einem Plan: 1996 gründet er einen eigenen Verlag namens Kagge Forlag, den er zu einem der führenden des Landes aufbaut. Dort bringt er bis zu 60 Exemplare pro Jahr heraus: Krimis, Fiktion, Non-Fiktion, Dokumentationen und Biografien. Er verfasst selbst sechs Bände, darunter ein Handbuch über "Friluftsliv", die typisch norwegische Liebe vom einfachen Leben in der Natur, sowie ein Kochbuch, das zeigt, wie man mit einem Campinkocher beeindruckt. Parallel beginnt seine "Reise zum vierten Pol", wie er es später nennt. Er wird Vater – "was im Grunde nicht schwer ist", grinst er. "Doch Kinder zu haben ist eine lebenslange Herausforderung". Sein Buch "Philosophy for polar explorers" widmet er seinen Töchtern Nor, Solveig und Ingrid. Darin zitiert er Heyerdahl und Schopenhauer, Socrates und Paris Hilton, Magellan und Madonna. Der Tenor: "Hab keine Angst vor Deiner eigenen Größe". Wenn Kagge das sagt, meint er es ernst: "Wir alle kommen als Forscher auf die Welt, das unterscheidet mich nicht von anderen. Jedes Kind von zwei Jahren will auf einen Stuhl klettern, noch bevor es laufen kann. Oder um die Ecke schauen – und später hinter den Horizont."


Neuland suchen, es sogar finden, das bleibt eine Konstante in Kagges Leben. Seit 30 Jahren sammelt er moderne Kunst, Avantgarde oder Konzeptkunst. Warum? Welch Frage. "Weil diese Feld das Schwierigste ist, viel schwerer als Alte Meister", sagt er. Etwa 600 bis 700 Werke besitzt er heute. Es begann mit einer Lithografie im Stile Munchs: ein Porträt, das an die Ex-Freundin erinnerte. Er bezahlt es mit zwei Flaschen Bordeaux-Wein. Von da an investiert er in Kunst – statt in Autos, Klamotten oder Sommerhäuser. Es folgen Werke von Künstlern, die heute zur ersten Liga zählen: Fotos von Richard Prince und Wolfgang Tillmanns, Werke von Olafur Eliasson, Trisha Donnelly, Raymond Pettibon oder Tauba Auerbach, Konzeptkunst von Lawrence Weiner.


Unbeeindruckt vom Snobismus des Kunstbetriebs kauft Kagge, was ihm gefällt – oder mal gefallen könnte: "Man muss dem eigenen Geschmack immer voraus sein". Fast im Vorbeigehen hebelt er das eine oder andere Marktgesetz aus. Weil er Künstler als auch die Kunst selbst verstanden hat und nicht als Status-Symbol betrachtet. Und auch über das Kunstsammeln schreibt er ein Buch: In seinem Ratgeber "A Poor Collector’s Guide to Buying Great Art" empfiehlt er, dem eigenen Instinkt zu trauen: "So findet man heraus, welche Trends man befolgt oder ignoriert. Es gibt keine Regeln, nur Deals", sagt Kagge, heute Vorstandsmitglied des Astrup Fearnley-Museums in Oslo, erbaut von Renzo Piano. Dort zeigte seine Ausstellung "Love Story" im Herbst 2015 einen Querschnitt von Kagges Sammlung. Er weiß: Der heutige Kunstmarkt ist hochdynamisch. Um all die Messen, Ausstellungen, Events und Galerien im Blick zu behalten, braucht es Neugier, Instinkt, Passion und Ausdauer – alles Eigenschaften, die Kagge als Abenteurer über Jahre trainierte. So ist seine heutige Sammlung, eine der größten Skandinaviens, eine Entsprechung seiner Person: unkonventionell und unprätentiös, überraschend, tiefgründig, sehr persönlich und gern auch mal provokant-ironisch.


Schluss mit Expeditionen ist für ihn nicht. Obwohl die Vermessung der Welt längst abgeschlossen scheint, ihre extremsten Punkte erobert. Wohin geht man also, wenn man schon überall gewesen ist? 2010 hat er eine neue Idee: In fünf Tagen durchquert er mit Freunden die Kanalisation von Manhattan. Sie schlafen in Schächten, waten durch Kloake und Abwasser, mit Stirnlampen, erleben die Stadt, wie sie nie jemand zuvor erlebt hat. Eine Reise durch den Verdauungstrakt der "manmade wilderness" sozusagen, durch das kollektive Unterbewusstsein der Hauptstadt der Welt. "Ich habe dort eine Art negative Schönheit entdeckt", sagt er. Eine gefährliche Welt mit plötzlich ansteigenden Fluten und explosiven Gasen. Erling ist für die Navigation zuständig, manchmal kriechen sie auf Händen auf Füßen vorwärts. Im Herbst 2015 erscheint sein Buch "Under Manhattan" im Kagge Forlag.


Und als nächstes? Man darf gespannt sein. "Das ganze Leben ist eine große Expedition, grundsätzlich, egal ob Du läufst, kletterst, Philosophie studierst oder Kunst sammelst. Es geht immer um das Gleiche, immer wieder. Und, ja, eine Gefahr ist immer dabei, das gilt doch für das gesamte Leben." 1994 ist er zu den Feierlichkeiten zu Thor Heyerdahls 80. Geburtstag eingeladen. "Während ich den Reden und Lobpreisungen zuhörte, dachte ich mir: Der größte Unterschied zwischen dem Kon-Tiki-Mann und all den Besuchern hier ist, dass er eine Idee hatte, sich dafür entschieden hat und dass er ES einfach gemacht hat!".

Das ist das große Leitmotiv in Kagges Leben: Einfach machen. Er weiß heute: Wir alle können mehr, als wir glauben.



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