Hamid Khoshseiar kann sich noch gut an seine Ankunft in erinnern. Vier Jahre ist es her, dass er nahe dem Schwarzen Meer durch den Grenzfluss Evros schwamm. Dort, wo die Strömung nach seinen Berechnungen am schwächsten sein musste, erzählt er. Einen Sack voller Klamotten und einen Gehstock, mehr habe er nicht mitgebracht aus der Türkei. Es war eine weitere Etappe auf einer langen Flucht. Im Iran hatte Khoshseiar wegen seiner politischen und satirischen Schriften lange in Haft gesessen, teils in Isolation, unter schwerer psychischer und physischer Folter, berichtet er. Nach seiner Freilassung aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis floh er in die Türkei, wo ihn nach zwei Jahren Drohungen des iranischen Regimes auf dem Handy erreichten. Er sah nur einen Weg für sich: über die türkisch-bulgarische Grenze. Im rund 50 Kilometer entfernten Charmanli, einer Stadt in Südbulgarien mit dem größten Flüchtlingslager des Landes, ist er bis heute geblieben. Trotz allem.
Es ist ein Ort mit großer Bedeutung für Europa. Der Umgang mit Flucht und Migration hat sich nachhaltig verändert, seit vor zehn Jahren Millionen Menschen über die Balkanroute kamen. Viel Geld floss in die Infrastruktur der EU-Außengrenzen, Checkpoints wurden errichtet, Personal aufgestockt, Überwachungstechnik eingesetzt, auch in Bulgarien. Im Dezember einigte sich die Europäische Union auf eine Verschärfung des Asylrechts. Schon vor einem Jahr begann die EU-Kommission ein Pilotprojekt, bei dem Asylanträge direkt an der bulgarisch-türkischen Grenze im Schnellverfahren abgewickelt werden.
Worum es aber vor allem geht: Im vergangenen Jahr "verhinderte" die bulgarische Grenzpolizei nach eigenen Angaben knapp 180.000 "illegale Grenzübertrittversuche" von Menschen, die danach wieder "freiwillig" in die Türkei zurückgekehrt seien. Und wenn Bulgarien am 31. März nach jahrelangen Verhandlungen dem Schengenraum der EU beitritt, wird der Druck auf die bulgarischen Grenzschützer noch einmal größer. Was das bedeuten könnte, so fürchten Menschenrechtsorganisationen: noch mehr Zurückweisungen. Und auch mehr Gewalt.
"Zu trinken oder essen gab es nichts"Hamid Khoshseiar kann davon berichten. Als ihn die bulgarischen Polizisten damals an der Grenze aufgriffen, hätten sie ihn gefragt, wo der Rest der Gruppe sei. Doch der 40-Jährige, dessen Haare schon vor vielen Jahren weiß geworden sind, war allein gekommen. "Sie zwangen mich, mein T-Shirt nach oben zu ziehen", sagt Khoshseiar, zeigt auf seine Brust. "Bis hierhin." Er musste sich auf den Boden legen, an das Piksen der Nadeln und der kleinen Steine auf seinem Bauch erinnert er sich, kurz bevor ein Schuh in seinen Nacken drückte. Mit Khoshseiars Gehstock, der ihm geholfen hatte, den Fluss zu überqueren, habe ein Polizist dann auf seinen Rücken eingeschlagen. Bis der Stock in zwei Teile gebrochen sei. Zwei Tage lang ließen ihn die Beamten in einer Ecke der Polizeistation sitzen, sagt Khoshseiar. "Zum Glück hatte ich noch Walnüsse und Datteln in meiner Hosentasche, zu trinken oder essen gab es nichts." Er wurde wegen "illegalem Grenzübertritt" vor Gericht gestellt, wo er zu 200 Lew (100 Euro) Buße verurteilt wurde.
Khoshseiar sitzt an diesem Morgen im kleinen Büro der Hilfsorganisation Mission Wings auf einem Klappstuhl, vor ihm stapeln sich Plastiksäcke mit Kleidung. Mit weißen Jeans und müdem Blick wirkt er wie ein Arzt nach langer Nachtschicht. Jeden Tag kommen Menschen vorbei, fragen nach Speiseöl und Kopfschmerztabletten, holen Spielsachen für die Kinder ab, bekommen Hilfe bei Übersetzungen, psychologische Unterstützung und Rechtsbeistand. Für Khoshseiar ist es der Grund, warum er immer noch in Charmanli ist: Er bringt sich bei Mission Wings als Übersetzer und Koordinator ein, seit er als Geflüchteter anerkannt ist; anderen nach ihrer Ankunft in Bulgarien helfen zu können, das tue ihm gut. Hier sei er, sagt der studierte Physiker, "weniger Nerd und mehr Mensch".
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"Wenn die Polizei davon spricht, Grenzübertritte zu verhindern, geht das meist nicht 'freiwillig' über die Bühne", sagt Khoshseiar. Seit eineinhalb Jahren sammelt seine Organisation neben der täglichen humanitären Arbeit auch die Berichte der oftmals brutalen Zurückweisungen (Pushbacks) an der bulgarisch-türkischen Grenze. Auch investigative Recherchen haben in den vergangenen Jahren vielfach dokumentiert, wie Asylsuchende bis auf die Unterwäsche ausgezogen, vom bulgarischen Grenzschutz in den Fluss getrieben oder in kleinen, vergitterten Baracken eingesperrt und anschließend wieder auf die türkische Seite der Grenze gebracht wurden. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex teilt auf Anfrage von ZEIT ONLINE mit, 2023 in insgesamt elf Fällen zu möglichen Grundrechtsverletzungen durch bulgarische Beamte ermittelt zu haben, drei davon seien abgeschlossen. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Die Menschenrechtsorganisation Bulgarian Helsinki Committee (PDF) berichtet von mehr als 5.000 illegalen Pushbacks allein im Jahr 2022, mit mehr als 87.000 betroffenen Menschen.
Hamid Khoshseiar kann sich noch gut an seine Ankunft in erinnern. Vier Jahre ist es her, dass er nahe dem Schwarzen Meer durch den Grenzfluss Evros schwamm. Dort, wo die Strömung nach seinen Berechnungen am schwächsten sein musste, erzählt er. Einen Sack voller Klamotten und einen Gehstock, mehr habe er nicht mitgebracht aus der Türkei. Es war eine weitere Etappe auf einer langen Flucht. Im Iran hatte Khoshseiar wegen seiner politischen und satirischen Schriften lange in Haft gesessen, teils in Isolation, unter schwerer psychischer und physischer Folter, berichtet er. Nach seiner Freilassung aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis floh er in die Türkei, wo ihn nach zwei Jahren Drohungen des iranischen Regimes auf dem Handy erreichten. Er sah nur einen Weg für sich: über die türkisch-bulgarische Grenze. Im rund 50 Kilometer entfernten Charmanli, einer Stadt in Südbulgarien mit dem größten Flüchtlingslager des Landes, ist er bis heute geblieben. Trotz allem.