Es gibt wahrscheinlich keinen Menschen, der akribischer die Spuren der Toten des Evros sammelt als der Gerichtsmediziner Pavlos Pavlidis. Man ist noch dabei, sich auf die schwarze Couch vor seinem Schreibtisch zu setzen, da klickt Pavlidis schon konzentriert durch die Bilder auf seinem Computerbildschirm. Die Zigarette in seinem Aschenbecher ist bis zum Filter heruntergebrannt.
"Hier, ein Mann aus Pakistan", sagt Pavlidis. Auf dem Monitor ist ein mittelalter Mann zu sehen, die Augen sind geschlossen, sein Gesicht hebt sich weiß von der Metallplatte des Tisches ab, auf dem er liegt. "Die Polizei brachte ihn diesen Januar zu mir. Er war nicht derart entstellt wie die anderen."
Pavlidis überspringt die Bilder, auf denen der Ertrunkene nackt zu sehen ist, dann zoomt er näher an einen ausgefransten Zettel mit verschwommenen Nummern darauf, der neben dem Körper des Mannes liegt. "Das war wohl eine Telefonnummer."
Wir sind in der nordgriechischen Stadt Alexandroupoli, nahe der Grenze zur , in der Forensischen Abteilung des Universitätsklinikums. In den vergangenen 22 Jahren hat Pavlidis hier, im Untergeschoss des Gebäudes, über 500 Menschen untersucht, die im Grenzfluss Evros ertrunken sind. Fast alle sind Geflüchtete, die aus der Türkei auf dem Weg in die Europäische Union waren. Die meisten, sagt er, seien auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung 2015/16 gekommen.
Und doch hat Pavlidis vermutlich auch nur einen Bruchteil der Menschen gesehen, die in den letzten Jahren im Grenzfluss ertrunken sind. "Diejenigen, die hier bei mir auftauchen, werden oft durch Zufall von Fischern oder Jägern gefunden", sagt der Gerichtsmediziner. Und von ihnen, so fügt er hinzu, auch nur jene, die von der griechischen Polizei zur Identifikation zu ihm gebracht würden.
Der Evros entspringt in Bulgarien, schlängelt sich durch Südeuropa und bildet auf seinen letzten 185 Kilometern die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Oder: zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Rest der Welt. Seit Jahrzehnten versuchen Menschen unter Einsatz ihres Lebens, den Fluss zu überwinden, um in der EU einen Asylantrag stellen zu können, der für sie anders nicht zu bekommen ist. Und die EU geht immer weiter in dem Versuch, genau das zu verhindern.
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Zuletzt war die Region weltweit vor zwei Jahren in den Schlagzeilen, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ankündigte, die Grenze zu Griechenland für Geflüchtete zu öffnen. Hunderte Menschen wurden damals von der türkischen Regierung in Bussen zum Grenzfluss gefahren. Dort stoppten griechische Grenzschützer sie mit Tränengas und Blendgranaten. Die Regierung setzte zwischenzeitlich das Asylrecht aus.
Aus der EU kam breite Unterstützung für dieses Vorgehen. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, reiste eigens an, unterstützte das Vorgehen der Behörden und dankte Griechenland dafür, der "europäische Schild" zu sein. Die Regierung begann unmittelbar danach, den alten Grenzzaun entlang des Flusslaufs zu erhöhen und einen neuen zu errichten, für mehr als 60 Millionen Euro.
Seitdem hat sich die Situation am Evros nur scheinbar beruhigt. Zwar ist, während überall in Europa ukrainische Geflüchtete empfangen und versorgt werden, fast nichts zu hören aus der Gegend. Doch der Grund dafür ist nicht etwa, dass niemand mehr versucht, den Fluss zu passieren. Sondern eine umfassende Nachrichtensperre, die auch diese Recherche betraf.
Eine Anfrage von ZEIT ONLINE bei der griechischen Polizei und dem Ministerium für Bürgerschutz, die Grenzmauer zu besuchen, lehnten die Behörden ab. Das Außenministerium erteilte zudem ein Rechercheverbot in der Region Evros. Das kann für Journalisten, die sich nicht daran halten, ernsthafte Folgen haben: In dem Grenzgebiet, das auch streckenweise als Militärsperrgebiet ausgewiesen ist, unterwegs zu sein, kann eine Anklage wegen Spionage nach sich ziehen. Auf den Ägäischen Inseln, der Seegrenze zur Türkei, passiert das Journalisten immer wieder.