Es ist erstaunlich ruhig am Bahnhof von Záhony, als eine Frau mit ihrem Sohn und einem kleinen Rucksack über der Schulter langsam aus dem Zug steigt. Als würden sie eine stille Bühne betreten, vor der das Publikum nichts zu klatschen hat. Wie bei jedem Zug mit Flüchtenden, der jetzt den kleinen ungarischen Grenzbahnhof erreicht, stehen ungarische Polizisten mit Pelzkappen in der vordersten Reihe. Dahinter warten Helferinnen einer Kirchenorganisation in frischgrünen Westen, die den Ankommenden einen Korb mit eingepackten Schokocroissants entgegenstrecken. Der Ausstieg erfolgt nur langsam. Grenzbeamte prüfen die Dokumente der Reisenden noch im Zug. Dabei dürfen Flüchtende aus der im Moment ohne Impfnachweis und Visabestimmungen einreisen. Aus einem Lautsprecher dröhnt plötzlich eine englische Frauenstimme: Eine ältere Frau, die gerade eine Einkaufstasche voller Brot schultert, zuckt zusammen, als die Lautsprecher auf Englisch verkünden, dass Ankommende "mit einem Solidaritätsticket" kostenlos nach Budapest weiterreisen könnten.
Mehr als eine Million Geflüchtete sind aus der Ukraine geflohen. Davon erreichten bislang 145.000 Menschen Ungarn. Es sind ungewöhnliche Szenen an den ungarischen Grenzen im Süden des Landes, die sonst für elektrisch gesicherte Stacheldrahtzäune, bewaffnete Grenzbeamte und gewaltvolle Zurückweisungen von Flüchtenden nach Serbien bekannt ist. Sogar die Grenzschutzagentur Frontex hatte sich im vergangenen Jahr aus Ungarn zurückgezogen. Die Politik der Migrationsverhinderung nach Europa ist zum Kernprogramm im Wahlkampf des ungarischen Premierministers Viktor Orbán geworden. Doch diesmal ist es anders. Auch bei Tausenden Studierenden aus Nigeria und Indien, die in den letzten Jahren einem Medizin- oder Ingenieursstudium in nachgingen, hat sich der Grenzübergang als besonders hilfsbereit herumgesprochen.
In der grell beleuchteten Eingangshalle des Bahnhofs von Záhony riecht es eine Stunde nach der Ankunft eines Zuges aus der Ukraine, der etwa alle drei Stunden einläuft, mittlerweile nach Spargelsuppe und verschwitzter Skikleidung. Neben einer Aufladestation für Telefone sitzt der 26-jährige Calvin aus Nigeria, er will nur seinen Vornamen nennen. Calvin beißt in ein Salamibrot. Neben ihm lädt sein Telefon. Drei Jahre lang studierte er in Charkiw an der medizinischen Fakultät. Er wollte sich in Chirurgie spezialisieren. "Ich habe gehört, dass es einfacher ist, über Ungarn auszureisen", sagt Calvin, "die Botschaften konnten gut mit Ungarn kooperieren." Drei Tage brauchte er, um den Bahnhof von Záhony zu erreichen. Calvin ist einer von 76.000 Menschen aus über 155 Ländern, die vor dem Kriegsbeginn in der Ukraine studierten. Nachdem es an der polnischen Grenze für viele internationale Studierende zu Problemen gekommen war, empfahl auch die nigerianische Botschaft, über Záhony nach Ungarn zu kommen.
Ein sicherer Weg für internationale StudierendeCalvin greift in seine Hosentasche und zieht einen Hausschlüssel hervor: "Es kommt mir immer noch so vor, als könnte ich heute Abend wieder die Tür aufsperren", sagt er, "ich würde alles geben, weiter studieren zu können." Stattdessen nimmt er nun den nächsten Zug nach Budapest. Von dort aus organisiert die nigerianische Botschaft ein Flugzeug nach Hause. Möglich ist das, weil Ungarn es Personen mit gültiger ukrainischer Aufenthaltsgenehmigung erlaubt, vorübergehend ohne Schengenvisum einzureisen - und die Verpflegung bis zur Evakuierung durch die Botschaften in die Heimatländer zusichert.
Neben Calvin steht eine Gruppe von Medizinstudentinnen aus Ägypten und Jordanien. "Wir bekamen Anrufe von Freunden an der ukrainisch-polnischen Grenze, dass sie nicht durchgelassen wurden oder in Extraschlangen warten mussten, daher sind wir gleich nach Ungarn gereist", sagt ein 24-jähriger Student aus Ägypten. Auf Twitter zeigt er die Bilder der brennenden Soziologiefakultät in Charkiw. Die zweitgrößte Stadt der Ukraine ist in diesen Tagen zum Schauplatz eines der heftigsten Kämpfe zwischen den ukrainischen Soldaten und den eindringenden russischen Truppen geworden. "Der Weg vom Bunker zu den Zügen wurde immer gefährlicher", sagt der Student, "wir mussten so viele Freunde zurücklassen."
Nur vier Wochen bis zur WahlDie Szenen der offenen Grenzen stehen im starken Kontrast zur bisherigen Migrationspolitik von Premier Orbán. 2015 hatte Ungarn seine Grenze zu Serbien geschlossen und einen Stacheldrahtzaun errichtet, der 2017 zu einer Mauer ausgebaut wurde, die sich nähernden Menschen Elektroschocks verpassen kann und mit Lautsprechern ausgestattet ist, die Menschen in verschiedenen Sprachen dazu auffordern, sich nicht den Landesgrenzen zu nähern. Im Mai 2020 stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass die willkürliche Inhaftierung von Asylbewerbern in Transitzonen an der ungarischen Grenze zu Serbien rechtswidrig sei. Doch Orbán hielt auch nach einem Urteil des obersten Gerichtshofs der Europäischen Union an den rechtswidrigen Praktiken fest. "Wir werden nichts tun, um die Art und Weise, wie wir unsere Grenze schützen, zu ändern, (...), wir werden niemanden ins Land lassen", sagte der Premierminister.
Davon ist in diesen Tagen nichts zu spüren. Stattdessen trägt die ungarische Regierung die in der EU vereinbarte schnelle und unkomplizierte Aufnahme der Flüchtenden aus der Ukraine mit. Der Schutzstatus soll zunächst für ein Jahr gelten, verlängerbar auf insgesamt drei Jahre. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach von einer "historischen Entscheidung".
Die Geschehnisse zwingen Victor Orbán zu einem Balanceakt. Es sind nur mehr vier Wochen, bis Ungarn am 2. April wählt. Und Orbán bewegt sich zwischen Europa und Russland. Zum einen sicherte er der Nato und der EU zu, ihre Beschlüsse voll mitzutragen. Gleichzeitig erklärte er, dass Ungarn sich in keiner Weise in den Konflikt im Nachbarland Ukraine hineinziehen lassen werde - weder mit eigenen Soldaten noch mit Waffenlieferungen. Noch vor einem Monat saß der ungarische Regierungschef in Moskau an Putins langem Tisch. Die Opposition, die auch in diesen Tagen immer wieder an den Bahnhöfen und Hilfestellen Präsenz zeigt, bezeichnete ihn in der lokalen Presse als "Putins Pinscher" oder "Agenten Moskaus".