Tahere Zaher* klopft den Schlamm aus ihren Schuhen und hängt ihre rosafarbenen Ohrenschützer an den Nagel in der Ziegelwand. Gleich daneben dreht sie die Glühbirne aus der Fassung. "Die Polizei darf nicht sehen, dass wir hier Elektrizität haben", sagt sie. Immer wieder blickt sie nervös aus dem Fenster. "Heute Morgen versuchten es wieder ein paar Familien. Wir haben gehört, die bosnische Polizei hielt die ersten schon bei der Abbiegung auf." Die 20-jährige Studentin aus dem afghanischen Bamiyan heizt den Ofen noch einmal mit frischem Holz an. Seit etwa zehn Tagen lebt sie zusammen mit ihren beiden Geschwistern, ihren Eltern und zwei weiteren Familien in einem verlassenen Haus bei Velika Kladuša - im Norden von Bosnien-Herzegowina an der Grenze zu .
Ein paar Meter weiter steht ein winziges Grenzhäuschen mitten im Wald. Niemand ist darin zu sehen, beginnt fast unbemerkt. Dabei ist dies hier einer der brutalsten Punkte auf der sogenannten Balkanroute, die seit 2016 für Geflüchtete durch Mauern und Zäune immer dichter geschlossen wurde. Auf dem Weg zur Grenze häufen sich die Minenwarnschilder in den Feldern, als ob sie daran hindern sollen, von der Straße abzukommen. Trotzdem läuft die Familie zu fünft fast jeden Morgen einen dünnen Schlammweg am Waldrand entlang, um bei der Grenze um Asyl zu bitten, wenn sie einen Grenzpolizisten sehen. "Alles ist friedlich, bis du dich bewegst", sagt die 20-jährige Tahere. Sie schiebt ihre langen Ohrringe unter die Kapuze ihres Pullovers.
Vor einem halben Jahr verließen sie das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos in Griechenland. Seit Wochen sammeln sich nicht nur junge Männer, sondern auch zunehmend Familien an der Grenze zu Kroatien, die zuvor in Griechenland waren. Wegen der verzögerten Familienzusammenführungen in Europa und der stockenden Asylverfahren in Griechenland machen sich immer mehr wie die Zahers auf den Weg in Richtung Balkanroute. "In Griechenland wären wir obdachlos geworden, wir mussten weiter", sagt Tahere. "Wir konnten weder vor noch zurück." Denn seit der Revision des Asylrechts in Griechenland im Januar 2020, durch die viele Menschen die Insellager verlassen mussten, landeten immer mehr Fliehende ohne staatliche Unterstützung auf der Straße. Andere erhielten weiterhin über Monate und Jahre keine Antwort auf ihr Asylverfahren. Heute stehen sie wieder vor Europas Tür. Doch diese Grenze sei "noch schlimmer als das Meer".
"Geht ihr noch einen Schritt weiter, tun wir euch weh"
An diesem Morgen wurden sie zum zehnten Mal in den vergangenen zwei Wochen zurückgewiesen, berichten sie. "Geht ihr noch einen Schritt weiter, tun wir euch weh", habe ein Grenzpolizist ihnen gesagt. Allein im vergangenen Jahr soll es laut dem Danish Refugee Council (DRC) zu mehr als 16.000 illegalen Push-backs von Kroatien gekommen sein. Darunter waren auch 800 Kinder betroffen, die keine Chance bekommen, einen Asylantrag zu stellen. 60 Prozent dieser illegalen Push-backs verlaufen demnach gewalttätig: Grenzschützer treten auf Geflüchtete ein, setzen Schlagstöcke und Elektroschocks ein, zwingen sie laut Berichten von Human Rights Watch zu "Spießrutenläufen" zwischen den Polizeireihen.
"Die Menschen kommen meistens mit schweren Verletzungen zurück, meist von Tritten und Eisenstangen, doch sie werden auch psychisch misshandelt", sagt Nicola Bay von DRC. "Eine Gruppe von Patienten, die wir im Oktober nach einem Push-back behandelt haben, heilt noch immer die Verletzungen aus." In einem Schwarzbuch der Push-Backs legte das Border Violence Monitoring Network (BVMN) der EU-Kommission im Dezember vergangenen Jahres 892 Zeugnisse von Geflüchteten vor, die über die exzessive Gewalt an der Grenze sprechen. Sie erzählen unter anderem von Hundebissen, erzwungenem Entkleiden und Haft ohne grundlegende Standards. Im Moment soll die Brutalität laut den Beobachterinnen wieder zunehmen. "Die Familien sind besonders psychischer Gewalt ausgesetzt", sagt eine Mitarbeiterin vom BVMN, die aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt werden will. "Manchmal ziehen die Grenzpolizisten die Kinder nackt aus, um nach Telefonen oder Geld zu suchen."
Zurück im Haus wärmt Mutter Habibe Zaher Wasser auf dem Ofen auf, "zum Duschen". Draußen wäscht ein befreundetes Ehepaar Geschirr und Kleider. Oft grüßt man sich, bleibt stehen für ein Gespräch. Teilt, was man hat. Die Temperaturen sollen in den nächsten Tagen wieder weit unter den Gefrierpunkt fallen. Von den rund 8.000 Asylsuchenden in Bosnien-Herzegowina leben laut dem Danish Refugee Council etwa 2.000 Menschen in Baracken und verlassenen Gebäuden unter schlimmen Bedingungen, weil sie in den Lagern keinen Platz mehr finden. Diese Menschen haben weder Zugang zu medizinischer Versorgung noch rechtliche Ansprechpartner oder auch nur die Möglichkeit, ihr Handy an einer Steckdose zu laden. Der nächste Kiosk ist mehr als zwei Stunden zu Fuß entfernt - und es ist verboten, die Geflüchteten im Auto mitzunehmen. "Jeder zweite Mensch im Dorf braucht medizinische Versorgung", sagt Tahere Zaher. "Hier sind Menschen über 70 mit schweren Herzproblemen." Die Medikamente haben viele auf der Reise verloren oder sie sind ausgegangen. "Hier kommen nur bosnische Helfer hoch, das ist gut, aber sie sind keine Ärzte."