Einmal besuchte Samira die Burg im Touristenort Molivos, im Norden der griechischen Insel . Es gibt Ausblicke, die seien so schön, "die tun richtig weh im Herzen", sagt sie. Samira, die ihren echten Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will, stützt ihre Hände neben der heißen Kochplatte ab. Der Kaffee brodelt, die Kardamomknospen kommen an die Oberfläche, in der Holzhütte riecht es nach Pause. "Wenn die Menschen uns hier nur ankommen lassen würden", sagt sie. "Oder besser, die Regierung."
Zwei Jahre ist es her, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk die 38-Jährige mit ihrem siebenjährigen Sohn und ihrem Mann aus dem überfüllten Flüchtlingslager Moria in das Solidaritätscamp brachte. "Damals konnte ich gar nicht mehr aufstehen", sagt Samira. Mit einer chronischen Nierenerkrankung lag sie wochenlang mit einem Katheter auf einer Liege in einem Container. Zur nächsten Dusche waren es fast zwanzig Minuten zu Fuß. Im Lager gab es nur einen Militärarzt, eine ausreichende Gesundheitsversorgung war nicht möglich. Die humanitären Organisationen konnten die riesige medizinische Versorgungslücke in Moria nur ansatzweise füllen. Chronisch kranke Patientinnen wie Samira blieben oft monatelang unterversorgt. Sie hatte als eine der wenigen das Glück, nach Pikpa zu kommen.
Das Hüttendorf liegt auf dem Weg zum Flughafen, früher verbrachten Kinder hier ihre Ferien. Unter Pappelbäumen, neben einem Tennisplatz und dem Meer. Statt Stacheldraht und Flutlichtern stehen hier Holzzäune und warme Laternen. Es ist der Gegenentwurf zur Abschreckungsarchitektur von Moria. Seit 2012 fanden in dem von der Initiative Lesbos Solidarity selbstorganisierten Camp rund 30.000 besonders schutzbedürftige Menschen ein Zuhause. Darunter Menschen mit Gewalterfahrungen oder schweren Behinderungen, Krebspatienten, alleinerziehende Mütter. Derzeit wohnen in den Holzhütten 74 Geflüchtete, darunter 31 Kinder.
Die Tür geht auf. Ein grüner Flummi springt durch die Tür, hinterher hechtet der siebenjährige Sanai. Er kommt gerade aus der Schule. Er wirft seinen Rucksack auf den Stuhl, legt seine Dinosauriermaske auf den Esstisch und streckt die Brotzeitbox seiner Mutter entgegen. Die schüttelt erst einmal seine Thermoskanne. "Hast du auch genug getrunken?" Sanai entzieht sich ihrem fragenden Blick, indem er einen Tennisschläger hinter dem Vorhang hervorzieht und rasch wieder aus der Tür läuft, hinaus zu den anderen Kindern.
In Moria hat Sanai mehrmals aufgehört zu sprechen, erzählt Samira. Er wurde aggressiv, wollte nicht schlafen und kaum mehr essen. Kurz nachdem die Familie ihre Holzhütte in Pikpa bezogen hatte, durfte er wie die anderen Kinder im Lager die Grundschule in der Hafenstadt Mytilini besuchen. "Jetzt hört er gar nicht mehr zu reden auf", sagt Samira.
Die Kinder in Moria bekamen keine Schulausbildung. Laut UNHCR sind auch im neuen Lager, das nach dem Brand vor etwa vier Wochen auf einem militärischen Schießübungsplatz am Wasser errichtet wurde, noch immer 39 Prozent der Geflüchteten Kinder.