"Die Sicherheit der Menschen im Camp ist wichtiger als unser Asylprozess. Gibt es gewaltsame Ausschreitungen im Camp, verlangsamt sich auch der Prozess der Asylbehörden", sagt Maryam Janikhushk. Die 40-jährige Afghanin sitzt auf dem Hafenplatz von Mytilini auf der griechischen Insel , ihre weißen Sneaker übereinandergeschlagen. Mit der flachen Hand streicht sie ihre Haare ins lila Kopftuch. Vor zwei Wochen hat sie ihren Job als Community Leader im Flüchtlingscamp Moria gekündigt. Ihre Familie bekam vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR eine sichere Unterkunft in der Hafenstadt von Mytilini zugewiesen. Einen Tag nachdem sie Moria verlassen hatte, starb ein 15-jähriger Afghane bei einer Messerstecherei.
Noch immer fährt Janikhushk jeden Morgen hinter ihrer neuen Unterkunft in das ehemalige Militärlager von Moria. An diesem Mittwochmorgen kam es zu gewalttätigen Protesten, nachdem etwa 50 afghanische Minderjährige lautstark gefordert hatten, aufs Festland gebracht zu werden. Die Polizei setzte Tränengas ein, nachdem einige Geflüchtete Steine auf Polizeibeamte und Mitarbeiter des Registrierzentrums geworfen hatten. "Wenn ein Streit eskaliert, wird binnen Sekunden ein Feuer daraus", sagt Janikhushk, "vor allem jetzt, wo mehr als 10.000 Menschen auf einem Platz für 3.000 festsitzen."
Sie nannten sie "die Anwältin", "Mama Maryam", "Die mächtigste Frau von Moria". Vor neun Monaten kam sie mit ihrem Ehemann und ihren zwei Töchtern in einem Schlauchboot auf der griechischen Insel Lesbos an. Innerhalb weniger Stunden hatten sie ihr Haus in Kabul verlassen müssen, nachdem ihre Familie angegriffen worden war. Nur eine Woche später wurde Janikhushk zur Sprecherin der Afghanen in Europas größtem Flüchtlingslager gewählt. Sie wollte Klarheit in die Strukturen bringen, die Gewalt im Camp unter Kontrolle bringen, indem sie zwischen den Afghanen und der Campverwaltung vermittelte.
"Ich habe allen gesagt, dass sie Geduld haben müssen"Janikhushks Alltag sah damals so aus: Während ihr Mann in dem kleinen Container das Frühstück für die zwei Kinder zubereitet, dreht sie ihre morgendliche Runde im Camp. Aus jedem Container strecken ihr Menschen ihre Dokumente entgegen, fragen sie nach Windeln, berichten ihr, wer die jüngste Schlägerei im Camp angefangen hat. Im Laufe der Monate kommen immer mehr unbegleitete Jugendliche zu ihr, erzählen ihr von ihren Problemen. Und dass sie sich nachts nicht sicher fühlen. Oft kann sie einen Gewaltausbruch eindämmen: "Ich habe allen gesagt, dass sie Geduld haben müssen und sich mit ihren Problemen an Menschenrechtsgruppen oder Anwälte wenden sollen. Wir müssen zusammen und nicht gegeneinander arbeiten."
Janikhushk wird auch zur Vermittlerin zwischen den griechischen Behörden und den Geflüchteten, die drei Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen unter menschenunwürdigen Bedingungen in dem Flüchtlingslager von Moria festsitzen. Für sie wäre die Situation der Menschen im Lager leicht zu verbessern gewesen, hätte sich nur jemand gefunden, der sie verbessern wollte.
Dann kommt der Juni und mit ihm steigt die Zahl der Geflüchteten, die in Schlauchbooten an den Küsten von Lesbos ankommen, nach offiziellen Angaben auf 3.100. Im Juli sind es knapp 5.000 Menschen und im August werden es 8.100.
Lockert die Türkei ihre Kontrollen?Der 29. August wird der Tag, der alles noch mehr ins Wanken bringt. Innerhalb einer Stunde kommen bei Tageslicht 13 Boote mit 540 Menschen im Norden der Insel an. Darunter sind 240 Kinder. Normalerweise legen die Boote nachts von der türkischen Küste ab, um größere Chancen zu haben, nicht erkannt zu werden. Auch Janikhushk fragt sich, wie die 13 Boote in einer Reihe durch die Ägäis auf Lesbos zusteuern konnten, ohne von der türkischen Küstenwache abgefangen zu werden.
Am selben Tag reist der neue griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis nach Berlin, um Angela Merkel zu treffen. Neben Reparationsfragen steht auch das EU-Türkei-Abkommen auf der Agenda. Die griechische Delegation fürchtet, die Türkei habe die Kontrollen an der Grenze gelockert und verstoße damit gegen den Flüchtlingspakt mit der EU. Der türkische Botschafter wehrt sich gegen diese Vorwürfe und verweist auf die Zahlen der Geflüchteten, die von der türkischen Küstenwache abgefangen wurden. Am selben Tag wurden laut türkischer Küstenwache sieben afghanische Geflüchtete auf dem Landweg und 16 auf dem offenen Meer an der Flucht nach Griechenland gehindert.