Mit einer schnellen Handbewegung verdeckt der Wirt der Pension Delia gut ein Viertel des Donaudeltas auf der Landkarte. "Da oben geht nichts, das ist die Ukraine. Na ja, eigentlich gehört das uns, aber die Gauner haben uns Bessarabien ja gestohlen. Verbrecher, alle", murmelt er. Der Rest: kein Problem, politisch wie organisatorisch. "Was wollt ihr – fischen? Vögel beobachten? Pelikane? Kann ich alles ab Crisan organisieren." Und damit hat er erst einmal recht: Der Weiler liegt mitten in der 5000 Quadratkilometer großen Wasserfläche des Donaudeltas, rund drei Bootsstunden von der nächsten Stadt Tulcea entfernt.
Straßen gibt es keine. Wie auch, steht doch Crisan auf einem der wenigen "Grinduri", den festen Landmassen, die überhaupt bebaubar sind. Drumherum: Wildnis. Kurz hinter Tulcea teilt sich die Donau in drei große Arme, die durch zahllose Seitenarme und Seen verbunden sind. Wäre der Titel "letzter Urwald" Europas nicht schon an Dutzende andere Lokalitäten vergeben, hier würde er passen. Denn das Donaudelta sammelt Auszeichnungen und Superlative wie ein Spitzensportler. Das größte Feuchtgebiet Europas, das größte zusammenhängende Schilfgebiet der Welt, seit 1991 Unesco-Weltnaturerbe und Biosphärenreservat – und natürlich das zweitgrößte Delta Europas. Nur die Wolga kann der Donau sprichwörtlich das Wasser reichen. Wer diese Welt entdecken will, braucht ein Boot. Das hat der Wirt selbstverständlich parat.
Kein festes Land in Sicht
Wenig später tuckert der kleine Außenborder samt ortskundigem Bootsführer Florin durch die Lianen-verhangenen Kanäle, über mäandernden Flüsschen, durch Schilfgestrüpp und über den Altarm des Donauhauptkanals Braul Sulina. Die Passagiere haben immer die spannend-schöne Gewissheit: So abgelegen ist die Route, fiele der Bootsmann ins Wasser, die Rückkehr wäre ungewiss.
Denn mit dem simplen Wort "Feuchtgebiet" lässt sich das Donaudelta kaum in Worte fassen. Hier gibt es Seen bis zum Horizont und Bootstouren, auf denen der Reisende über Stunden, ja manchmal sogar Tage keiner Menschenseele begegnet. In der Hochsaison wohlgemerkt.
Selbst die Einheimischen müssen sich im Labyrinth des Schilfs immer wieder überraschen lassen: War da nicht gestern noch ein kleiner Kanal zum See? Eine Insel? Was auf den ersten Blick wie Festland erscheint, ist meist nur eine schwimmende Verbindung aus Farnen, Schilf und Modermasse, die sich mit jeder Bugwelle hebt und senkt. Durch die Gärung des Untergrunds entstehen enorme Massen von Faulgas, die Hektar-große Dickichtflächen abreißen und an die Wasseroberfläche tragen.
Keine andere Region Europas hat eine so niedrige Bevölkerungsdichte wie die schwimmende Welt des Deltas. Um die 15.000 Zähe, Unermüdliche sind es, die sich von eisigen, feuchten Wintern mit klirrend kalten Steppenwinden, der totalen Einsamkeit und den nicht existierenden Ablenkungsmöglichkeiten nicht abschrecken lassen. Und der Arbeitslosigkeit. Wer nicht Fischer wird oder einen der raren Verwaltungsposten erwischt, hat kaum eine Chance auf ein geregeltes Auskommen im Delta. Auch für den Fremdenführer Florin ist das ein echtes Problem. Was er außerhalb der Saison macht? Schulterzucken – Gelegenheitsjobs eben. Wenn er trotzdem bleibt, dann weil ihn die Weite des Deltas nicht loslässt.
In dieser Wildnis erscheint das Dorf Mila 23 (der Name bedeutet schlicht, dass die Siedlung an der 23. Donau-Meile ab Mündung liegt) fast schon urban. Ernst, ja fast ein wenig traurig blickt Lady Di von einem Poster über die leeren Tische der Bar an der Anlegestelle. Rumänische Schlager plärren in der Mittagshitze, ein Deckenventilator quirlt die warme Luft.
Die Kundschaft will freilich nicht so recht ins Rumänien-Klischee passen: Die Männer sind blauäugig und nicht selten rothaarig, auf den Stufen der Terrasse spielen strohblonde Mädchen mit Zöpfen. Wie überall im Delta sind viele Bewohner von Mila 23 nicht rumänischen, sondern russischen Ursprungs.
Sie stammen von den Lipowanern ab, einer Volksgruppe orthodoxer Christen, die als Anhänger des "wahren alten Glaubens" Ende des 17. Jahrhunderts nach einer Kirchenreform aus Russland ins Delta geflohen. Viele leben dort auch heute noch nach den alten Regeln, in den gleichen blauen Holzhäusern, in der gleichen Armut - Bullerbü auf Hartz IV.
In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wäre es fast vorbei gewesen mit der Abgeschiedenheit, denn der Diktator Nicolae Ceausescu hatte wenig übrig für die Schönheit des Deltas. Seine Vision von Europas größtem Feuchtgebiet waren eher pragmatischer Natur: Vermeintlich nutzlose Sumpf- und Wasserflächen ließ er eindeichen, trocken legen und schließlich in Äcker verwandeln. Rund ein Fünftel des Deltas, vor allem am nördlichen Chilia-Arm der Donau, wurde so bis 1986 zerstört. Für den Rest erträumte er sich eine industrielle Zukunft.
Im Süden von Crisan sind am Rande des Caraorman-Naturschutzgebietes noch heute die Reste einer gigantischen verfallenen Goldwaschanlage zu sehen, die nie in Betrieb genommen wurde. Rund ein Zehntel der trocken gelegten Flächen wurden seit 1991 wieder renaturiert, und auch für die restlichen Gebiete sind größtenteils Wiederherstellungsmaßnahmen vorgesehen.
Zum großen Ärger der rumänischen Deltabewohner und Naturschützer bahnt sich jedoch längst das nächste Ungemach an: Im Mai 2004 begann die Ukraine mit dem Bau des Bystroye-Kanals im Norden des Deltas. Aus ukrainischer Sicht ist das eine echte Sparmaßnahme, denn bisher konnten größere Schiffe nur gegen Gebühr über den rumänischen Donauarm Braul Sulina ins Schwarze Meer gelangen.
Für den Wasserhaushalt des Deltas ist das jedoch eine echte Bedrohung, deren Ausmaß sich erst nach Ende der Bauarbeiten erweisen wird. Laut World Wildlife Fund (WWF) drohen Küstenerosion, Verlandung und die Zerstörung vieler Brut- und Nistplätze.
Das schrille Kreischen der Pelikane
Doch noch kann Florin vom Boot aus rechts und links immer wieder auf einzelne Tiere deuten - an Kormoranen, Reihern, Störchen und schillernd-türkisen Eisvögeln vorbei plätschert das Boot langsam über den Bogdaproste-Kanal. Das Ziel sind die Pelikan-Kolonien des Trei-Iezere-Sees.
In Bilderbüchern sind Pelikane immer putzig. In Wirklichkeit sind sie vor allem eines: unglaublich groß. Und zahlreich. Wenn Tausende von Pelikanen schwerfällig ihre zweieinhalb Meter Flügelspannweite ausstrecken, dann geht das nicht leise oder harmonisch vor sich. Unter schrillem Gekreische und Geflatter nehmen die schweren Tiere Anlauf, unter ihnen ein paar Kormorane, die wie Kinder unter Fußball-Hooligans wirken.
Mit ihrer gewichtigen Präsenz sind die Pelikane wohl die spektakulärsten Bewohner des Deltas, und doch nur eine Spezies von vielen: Rund tausend Pflanzenarten wachsen auf dem Territorium, 3500 Tierarten leben hier die richtige Adresse also für alle, die einen Nerz ohne Knopf und Kragen erleben wollen oder nach Adler, Fischotter, Biber oder Wildkatze suchen.
Doch fernab aller Zahlen ist es die schiere Größe des Deltas, die den Besucher verstummen lässt: Wer auf einem der Seen den Motor ausschaltet, erlebt eine Stille, wie sie im besiedelten Westeuropa einfach nicht mehr existiert.