Der 24. Februar geht als tragischer Wendepunkt in die Geschichte ein: Russland wirft die ersten Bomben über der Ukraine ab. Der Angriffs- krieg treibt Tausende Frauen und Kinder in die Flucht, Männer im wehrfähigen Alter müssen im Land bleiben. In Österreich haben rund 90.000 Ukrainerinnen Zuflucht gefunden. News hat sechs von ihnen zum Gespräch getroffen
KATERYNA DENYSENKO: "ICH SAH ÜBERALL DIE HÄUSER BRENNEN"
„Ich bin nicht naiv“, sagt Kateryna Denysenko. „Ab Dezember habe ich mein Auto jeden Abend vollgetankt, um immer fluchtbereit zu sein.“ Die 41-Jäh- rige blickt zur Seite, die Anspannung steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Aber dass ich wirklich losfahren muss, wollte ich bis zum Ende nicht glauben. Auch jetzt, zehn Monate später, habe ich es noch nicht rich- tig registriert. Es ist wie ein schlimmer Albtraum, aus dem ich seit Februar nicht aufgewacht bin.“
Kateryna Denysenko ist in Kiew zu Hau- se. Vor dem Krieg war sie eine erfolgreiche Managerin. Gleichzeitig ist die 41-Jährige alleinerziehende Mutter eines vierjährigen Sohnes. „Ich habe schon immer in Kiew gelebt“, sagt sie. „Ich wollte nie weg.“ Das änderte sich schlagartig, als in der Nacht auf den 25. Februar russische Truppen in die Ukraine einmarschierten.
ANGRIFF AUF KIEW
„Ich wurde von einem lauten Knall ge- weckt“, erinnert sich Kateryna an die Nacht des ersten Angriffs. Sie sei erschro- cken ans Fenster gegangen. „Überall brannten Häuser“, sagt sie. „Ich stand un- ter Schock. Trotzdem habe ich sofort be- griffen, dass wir flüchten müssen. Ich dachte nur eines: Ich muss meinen Sohn retten, so schnell ich kann.“ Wie in Trance habe sie die nötigsten Sachen in einen Rucksack gepackt.
„In der Früh ging dann das Chaos los“, erzählt sie. „Aus dem Fenster sah ich, dass die Straßen schon um sechs Uhr morgens komplett verstopft waren. Alle wollten weg – einige Nachbarn liefen im Pyjama zu ih- ren Autos. Der Stau hat direkt vor meiner Einfahrt begonnen – wir wären keinen Zentimeter weit gekommen.“ Anstatt so- fort zu flüchten, habe sie Bekannte kontak- tiert, die einen Keller hatten. Diesen hätten rund 20 Personen zum improvisierten Bunker umfunktioniert. „Wir schleppten Matratzen, Campingkocher und Essen in diesen Keller“, erzählt Kateryna. „Einige Männer hatten geladene Waffen mit. An- dere brachten Schaufeln – für den Fall, dass wir verschüttet werden.“ Ihr kleiner Sohn sei inmitten der Hektik vollkommen überfordert gewesen und still in einer Ecke des Bunkers gesessen. „Am Abend war der Stau vor unserer Haustüre verschwunden“,
erzählt sie. „Es war nicht klug, den Keller zu verlassen – in der Nacht wurden Stra- ßenkämpfe erwartet. Aber ich musste es riskieren. Mein Sohn und ich stiegen ins Auto und fuhren los.“ Der Kleinwagen habe drei Stunden gebraucht, bis er sich durch den Stau zur Stadtgrenze Kiews gekämpft habe. „Immer wieder sind wir in langen Autokolonnen festgesteckt“, erzählt Ka- teryna. „Über unserem Wagen flogen stän- dig Raketen vorbei. Es war schrecklich. Wir hätten jeden Moment getroffen werden können.“ Erst auf der Autobahn habe sich die Mutter sicher gefühlt. Kateryna Deny- senko nimmt einen Schluck Wasser. So tief in den traumatisierendsten Tag ihres Lebens einzutauchen, sei nicht einfach, sagt sie. „Ich weiß nicht, wie ich das alles ge- schafft habe. Ich war wohl einfach im Überlebensmodus.“
DIE HÖLLENFAHRT
„Die meisten Menschen haben nicht daran gedacht, ihr Auto vollzutanken“, sagt sie. Die umliegenden Tankstellen seien längst außer Betrieb gewesen. Die Fahrzeuge um sie herum hätten der Reihe nach den Geist aufgegeben. „Die Menschen sprangen pa- nisch aus ihren Autos. Jeder hat verzweifelt eine Mitfahrgelegenheit gesucht.“ Katery- na Denysenko musste sich in Schlangenli- nien durch die stehengelassenen Fahrzeu- ge kämpfen. Nach ein paar hundert Kilo- metern Richtung Westen sei sie fast alleine auf der Schnellstraße unterwegs gewesen – nur wenige seien mit dem Treibstoff durchgekommen. „Ich bin ohne Pause bis zur polnischen Grenze durchgefahren“,
sagt sie. Der Weg sei beschwerlich gewe- sen: Dem Vierjährigen sei vor Stress übel geworden. Sie hätten oft halten müssen, weil er sich übergeben musste. „Das war nicht ungefährlich. Ich musste ständig da- rauf achten, dass ich den Schlüssel nicht stecken lasse. Es war eine Ausnahmesitua- tion, die Menschen waren in Not. Es hätte sein können, dass sich jemand ans Steuer setzt und mit meinem Auto davonfährt.“
Bei der polnischen Grenze sei eine kilo- meterlange Warteschlange gestanden. Wer über die Grenze wollte, habe mit drei Ta- gen Wartezeit rechnen müssen. „Das war zu lang. Ich bin direkt zur ungarischen Grenze weitergefahren“, sagt Kateryna. Nach fast zwei Tagen hätten Mutter und Sohn die Grenze zu Fuß überquert. Der Wagen blieb in der Ukraine zurück. „Als mein Sohn und ich in Ungarn waren, ha- ben wir beide vor Erleichterung geweint. Ich konnte endlich aufatmen. Wir hatten es geschafft, wir waren sicher.“
NEUBEGINN IN ÖSTERREICH
In Ungarn habe Denysenko mit einer ent- fernten Cousine Kontakt aufgenommen, die rechtzeitig samt Auto über die Grenze gekommen war. „Sie war auf dem Weg zu einem Verwandten in Wien“, erzählt sie. „In ihrem Wagen gab es noch zwei Plätze für uns. Also sind wir mit nach Österreich gefahren.“ Am 27. Februar seien Katarina und ihr inzwischen krankgewordener Sohn in einer Zweizimmerwohnung in Wien Donaustadt angekommen. Sie seien nicht die einzigen Verwandten gewesen, die bei jener Familie Schutz fanden.
„Unsere erste Woche in Wien verbrach- ten wir mit insgesamt zehn anderen ge- flüchteten Frauen und Kindern in einem Kinderzimmer“, erinnert sie sich. „Als wir angekommmen waren, begann ich lang- sam wieder, wie ein Mensch zu funktionie- ren. Nach fast drei Tagen konnten mein Sohn und ich endlich wieder etwas essen. Auf der Flucht sind wir nicht dazugekom- men. Die letzte Mahlzeit vor Wien waren ein Paar Würstchen aus dem Bunker von Kiew.“
Nach einer Woche habe Katerina über Facebook eine neue Bleibe gefunden: eine Holzhütte in einem Wiener Kleingarten- verein. „Die Eigentümer wollten von uns keine Miete. Gemeinsam mit einer anderen Ukrainerin und ihrer Tochter konnten mein Sohn und ich dort einziehen“, sagt Denysenko. „Es hatte Minusgrade, als wir dort eingezogen sind. Die Hütte war nicht gedämmt und hatte weder Heizung noch warmes Wasser. Freiwilligenhelfer konn- ten uns zum Glück einen elektrischen Heizstrahler organisieren. Damit sind wir immerhin auf 15 Grad gekommen. Es war ein sehr kalter Winter, aber das war uns egal. Wir waren in Sicherheit. Viele meiner Freunde haben es nicht aus der Ukraine hinausgeschafft. Sie mussten die kalte Jah- reszeit in feuchten Kellern in Kiew durch- stehen.“
ERFOLGLOSE JOBSUCHE
Als asylwerbende Familie erhalten Katery- na Denysenko und ihr Sohn monatlich 300 Euro vom Staat, als Zuschuss für Miete und Betriebskosten. Damit kann die Mut- ter ausreichend für sich und ihren Sohn sorgen. „Wir sind auf einer Plattform ange- meldet, bei der wir gerettetes Essen güns- tiger bekommen“, erzählt sie. „Die Angstellten dieser Geschäfte kennen uns schon. Sie stecken uns absichtlich die Lieblingssüßigkeiten meines Sohnes zu.“
Die Summe sei trotzdem knapp. Katerina sucht seit Monaten nach einem Job. Die Suche bleibt bisher erfolglos, trotz ihrer hohen Qualifikationen. „Ich habe schon Hunderte Bewerbungen ausgeschickt.“, sagt sie. „Aber ohne perfekte Deutsch- kenntnisse scheint es nicht möglich zu sein, eine Arbeit zu finden.“
Sie lerne jetzt intensiv Deutsch, um ihre Chancen am Arbeitsmarkt schnell zu verbessern. „Seit wir hier sind, hat mein Sohn ein neurologisches Problem entwi- ckelt“, sagt die Mutter. Das Fluchttrauma sei nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. „Er ist sehr still und verängstigt. Ich kann ihn nicht länger als einen halben Tag im Kindergarten lassen. Das ist bei der Jobsu- che auch ein Problem, aber leider habe ich hier niemanden, der mir bei der Kinderbe- treuung helfen könnte.“
Wie es für Kateryna und ihren Sohn langfristig weitergeht, ist derzeit noch un- klar. Als ukrainische Staatsbürger, die auf- grund des bewaffneten Konfliktes das Land verlassen mussten, haben die beiden vorerst bis 3. März 2023 ein Aufenthalts- recht in Österreich. Die Mutter hofft, dass dieses Recht um ein Jahr verlängert wird.
GLAUBE AN SIEG
„Wir Ukrainer sind ein sehr effizientes Volk“, sagt Denysenko. „Ich glaube daran, dass wir gewinnnen können. Wir organi- sieren uns, wir werfen aus unseren Wohn- zimmerfenstern Molotowcocktails auf russische Tanks. Wer für seine Freiheit kämpft, hat keine Angst. Diese Motivation hat Russland nicht.“ Kateryna Denysenko wischt sich vestohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. „Meine Eltern sind noch im- mer in Kiew. Ohne Heizung, Strom oder Wasser“, sagt sie. „Es ist schwer, wenn Fa- milien getrennt sind. Vielleicht würde ich zurückgehen, wenn ich allein wäre. Aber ich bin für einen kleinen Jungen verant- wortlich. Als Mutter habe ich keine Wahl.“
„Ich kenne viele Menschen, die schon für diesen sinnlosen Krieg gestorben sind“, sagt sie. Enge Freunde seien zum Glück nicht darunter. Aber mehrere Kollegen und Bekannte, die meisten von ihnen Familien- väter, seien einfach auf offener Straße er- schossen worden. „Mein bester Freund, der Patenonkel meines Sohnes, ist Berufs- soldat“, sagt sie. „Er kämpft gerade an der Front. Ich bin nicht religiös, aber wir beten jeden Tag für ihn.“